Der Junge mit dem zu großen Sweatshirt.

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Ich blinzle.
Langsam.
Schon wieder.
Erneut das.
Diese Unschärfe.
Das Unwissen.
Dann das Einstellen ins Scharfe, was für mein unfassbar ungeduldiges, unruhiges Gemüt viel, viel zu langsam vonstatten geht.
Meine Brille.
Meine Brille. Denke ich intuitiv.
Die sollte ich endlich öfters tragen.
Da bemerke ich beinahe erleichtert, wie frische, leicht warme Salzluft meine von dem Stadtleben eingetrockneten, aufgerauhten Lungenflügel hell aufweckt und leise im vorwurfsvollen Ton so etwas sagt wie Hey, benutze mich doch mal anständig und Atmen, aber richtig, Fräulein.
Irritiert nicke ich meiner inneren Stimme zu, nehme wie gewünscht einen richtigen Atemzug und hinterfrage dieses Mal nicht mehr so sehr wie beim letzten Moment, wie um Himmels Willen ich denn hierher gelangen konnte. So ohne Erinnerung.
Dennoch bin ich froh, nach so vielen Jahren wieder am Meer zu sein.
Vielleicht sollte ich einfach mal gute Dinge hinnehmen, sage ich im Kopf zu mir selbst.

"Tut gut, oder?"
Ich schaue leicht erschrocken nach rechts. Stelle fest, dass es Niklas ist.
Und dass wir beide auf weißen Holzstühlen sitzen.
Vor uns ein großer, ebenfalls weiß gestrichener Holztisch.
Und das weite Meer.
Vermutlich Ostsee.
Oder Nordsee.
Ich bin mir nicht sicher.

"Was?",
gebe ich verwirrt von mir.
"Die Luft. Das Meer. Die Ruhe.", sagt mein Sitznachbar ruhig,
lächelt mich schüchtern an.
Das Lächeln wird eine Spur schiefer.
"Du hast mich doch die eine Nacht betrunken angeschrieben und mir tausende Emojis dazugepackt, damit es vielleicht nur als Scherz gesehen wird."
Er lehnt sich zufrieden in dem Stuhl zurück, schaut aufs Meer, ehe er sich wieder mir zuwendet.
"Anscheinend war ich mindestens genauso verrückt und habe dir geantwortet."
Ich schlucke und krame fieberhaft im Hirn nach einer brauchbaren Information, doch es lässt sich nichts Hilfreiches finden.
"Das muss ich vergessen haben.", sage ich langsam nach einer längeren Pause. "Ich vergesse seit längerer Zeit ziemlich viel, sogar winzige Dinge.
Anscheinend war das eine dieser Erinnerungen, die ich vergessen haben muss."
Entschuldigend starre ich auf meine Armlehne, und als ich meinen Mut wieder gefunden habe, bemerke ich den Blick des Brünetten auf mir.
"Hm?"
Er sinkt etwas ertappt in seinen Stuhl.
Druckst leise herum.
Beginnt schließlich zu sprechen.
"Du siehst hier entspannter aus.
Sorgenfreier.
Das...fiel mir nur gerade auf."
Ich nicke langsam.
Herrje.
Anscheinend ist mein Gehirn gerade wirklich gar nicht brauchbar, stelle ich dezent verärgert fest.
Werfe Niklas einen Seitenblick zu.
Konzentriere mich auf das Rauschen, auf den Wind, der meine sowieso ungebändigte Frisur durcheinander wirbeln lässt, schließe für einen Moment die Augen.

Ehe ich diese wieder öffne, einen scheuen, kurzen Blick riskiere.
Durch einen Zufall kreuzen sich unsere Augenpaare. Einen Moment wage ich es nicht zu atmen.

Dann umgreift Niklas ohne jegliche Warnung meine Stuhllehne, zieht mich leise ächzend an sich heran.

Lächelt scheu und warm.
Unsere Arme berühren sich.
Nur ganz leicht.

Ehe ich irgendetwas tun kann,
verschwimmt erneut meine Sicht.
Und der Moment ist vorbei.

One shots (Youtube)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt