Und morgen bring ich mich um.

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'Alles Gute zum Geburtstag, Niklas!'
'Lieber Niklas, alles Liebe und schöne Erinnerungen an diesen Tag.'
'Ich freue mich schon auf nächste Woche, Niklas!'
'Hab dich lieb, Kleener'
'Wir sehen uns im Proberaum Dienstag, Niklas, see ya, Jako'

Still scrollte Niklas all die Glückwünsche und Nachrichten durch, fast zu viele für seinen Geschmack, so oft konnte er sich doch gar nicht bedanken.

Er konnte auch nicht.
Allein das Handy zu benutzen, gerade auf dem Bett zu sitzen verbrauchte wieder viel zu viel Energie.
Die Uni? Lange verdrängt.
Er fragte sich, wann der Bescheid kam, sie würden ihn runternehmen.

Aber zugegebenermaßen war es ihm einerlei. Uni. Freunde. Lebenslust.
Sogar die Musik kam nicht mehr so an ihn heran wie früher.
Früher.

Niklas verzog das Gesicht für einen winzigen Moment zu einer Grimasse und versuchte das Ziehen in der Magengegend zu ignorieren.
Früher hast du nicht deine Freunde sitzengelassen. Früher ging es dir weitaus besser.
Und dann kam der eine Abend, früher.
Erinnerst du dich, Niklas?
Als du vom Studio kamst und von einer Gruppe verprügelt und sexuell misshandelt wurdest?
Er biss sich auf die Lippe, so fest, dass es nach kurzer Zeit blutete.
Er hatte es nicht seinen Freunden sagen können, stattdessen täuschte er die nächsten drei Wochen eine schwere Erkältung vor, anstatt sich zu öffnen. Verließ die Wohnung nicht, an einigen Tagen, wo sein Magen von der frischen Erinnerung rebellierte, bekam er keinen Bissen hinunter und lag mit Angstschweiß und Herzrasen auf dem Bett.

Natürlich merkten enge Freunde etwas, er spürte es, er sah ihre Sorge, hörte die Versuche der Nachfrage, spürte die Hände auf den Schultern, die Umarmungen. Aber er konnte es einfach nicht. Der Zeitpunkt war verpasst, dachte er immerzu.
Du stellst dich an. Du hast das verdient. Irgendeine höhere Macht wollte es so. Alle hassen dich.
Du bist es nicht wert, dass man dir hilft.

Und dennoch schaffte Niklas sich lächerlicherweise kleine Inseln, Strohhalme, an die er sich klammern konnte. Immer wieder. Klausi.
Ich muss mich um meine Katze Klausi kümmern, aber dann bring ich mich um. Ich muss meinen Freunden im Proberaum helfen, aber dann bring ich mich um. Ich muss die Pflanzen gießen, aber dann bring ich mich um.
Jeden Tag, jede Woche.

Aber irgendwann schwächte dieses 'Ich muss' immer mehr ab, Niklas spürte die letzten Kraftreserven schwinden. Sah den Sinn nicht.
Verschenkte seine Katze an die Nachbarn. Pflanzte die Pflanzen im Park ein. Sie sollten nicht wie er leiden. Diese Fairness mochte er anderen noch vergönnen.

Niklas frierte.
Die Heizung war nicht angestellt, er war zu dünn angezogen. Langsam legte er das Handy neben sich auf die Matratze und seufzte.
Er stand wackelig auf, die kalte Luft aus dem offenen Fenster zog unbarmherzig durch die Altbauwohnung. Es war Anfang Januar und er war allein.
Wann hatte er zuletzt eine richtige Mahlzeit und ernährte sich nicht nur von Kaffee und Zigaretten?

Er sah sich im Zimmer um.
Sein Bett, Kommode, Kleiderschrank und Schreibtisch standen wie immer an ihrem gewöhnlichen Ort.
Nur er würde an diesen Ort nicht zurückkehren. "Auf keinsten.", murmelte er zu sich selbst, wie um sich selbst zu bestätigen.

Er ging ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser aus dem Waschbecken ins Gesicht, ehe er entschlossen zurück in sein Zimmer ging, das Handy entsperrte und Whatsapp aufrufte.
Er tippte auf 'Jakob'.
Ohne nachzudenken tippte er einen kurzen Text, sah noch einmal rüber und schickte ihn ab.

Ich verreise heute. Such nicht nach mir und komm nicht hierher.
Passt auf euch auf, Niklas

War das ein Abschiedsbrief?
Niklas sah auf den Boden und verbot sich, nachzudenken.
Sein Kopf musste leer bleiben.
Schweigend packte er sein Notizbuch mit seinen Texten und Ideen in den Rucksack, der bisher achtlos neben dem Bett lag, einen Stift und ein Foto mit ihm und Jakob an der Ostsee.
Sie waren erschöpft, aber unglaublich zufrieden mit sich und tiefen entspannt, als der Ozean-Dreh fertig war. Wenn Niklas genau in die Erinnerung hineintauchte, konnte er Frodo lachen hören, als er den Auslöser drückte, weil Jako Niklas rechtzeitig Algen auf seinen Kopf geworfen hatte und dieser in dem Moment eine kleine, bärtige Nixe war.

Niklas liebte das Meer und stellte sich vor, wie in den Märchen im Ozean leben zu können, oder mit Piraten durch die Weltmeere zu streifen.
Ein leichtes Lächeln zuckte ihm übers Gesicht. Ja, das wäre ich gerne. Frei.

Er sattelte den Rucksack mit dem wenigen Inhalt, den er mitnehmen wollte auf die andere Seite, schlüpfte in seine Schuhe und ging aus der Wohnung hinaus, hoch auf das Dach.
Mit genug Schwung würde er schneller da sein.
Ohne Fahrstuhl dauerte es zwar etwas, aber Niklas war kaum außer Atem. Er war nun auf der Durchreise, und es würde bald vorbei sein.
Sein Kopf würde komplett auf Reset gestellt werden, er wäre leicht und unbesorgt. Keine Angst mehr.
Ja, dachte er, als er das Dach erreichte, das wäre ein schöner Gedanke. Gemütlich und leicht lächelnd ging er auf den Rand zu.
Hier oben tobte der Wind, der würde ihn sanft hinforttragen und seine Hülle hierlassen. Die würde er nicht mehr brauchen. Er konnte dort alles sein, was er wollte.

Noch eine letzte Zigarette, dachte er und zog eine sogleich aus der Packung, steckte sie sich zwischen die Lippen und zündete sie an.
Der Rauch zog von dannen über die Dächer Berlins. Er würde diese Stadt vermissen. Aber es war nun Zeit für den Abschied. Niklas sah gedankenverloren die Stadt von oben an. Ein letztes Mal war ihm dieser Anblick vergönnt.

Dann trat er die Zigarette aus, schulterte den Rucksack mit seinen Habseligkeiten und der schweren Masse an Gedanken, und ging auf den Rand des Daches zu.

"Niklas, nicht!"
Ein lautes, metallenes Poltern der Tür zum Dach erklang, und ruckartig zuckte Niklas zusammen.
In der Tür stand ein schnaufender Jako, der soeben nach Luft rang.
Niklas spürte Angst und Panik hochkriechen, er fühlte sich ertappt.
"Jako, bitte lass mich gehen.", sagte er und spürte etwas. Ein Kloß in seinem Hals? Was war das für ein Gefühl?
Jako war hergekommen, obwohl er ausdrücklich davon abriet?
Was trieb ihn hierher?
Waren seine Gedanken so offensichtlich?
Niklas ärgerte sich, er war wütend auf sich und auf Jakob. Der machte das hier kaputt! Sein letzter Mut schwand langsam dahin und am liebsten hätte Niklas all seine Enttäuschung und Wut entgegengeschleudert.
Jako schritt auf ihn zu.
Sah sich um. Fokussierte den Blick auf seinen langjährigen Freund.
Angst und Sorge war in seinem Gesicht zu sehen.
"Bitte nicht, komm nicht näher. Bitte, Jakob.", flehte Niklas schließlich und war über die heißen Tränen überrascht, die ihm pausenlos über das kalte Gesicht strömten.
Er schritt rückwärts auf den Rand zu. Nicht mehr viel, und er würde fallen.

"Bitte tu das nicht. Ich brauche dich. Bitte tu mir das nicht an. Ich brauch dich doch.", flehte nun Jako mit rauher Stimme und streckte die Arme aus. Niklas spürte seine Mauer mit Angst bröckeln. All die vergrabenen Empfindungen und Bilder, schöne wie grausamen, kehrten wieder zurück, und von dem einen auf den anderen Moment fiel Niklas auf die Knie und schrie verzweifelt in den Himmel.
Wenn es einen Gott gab, hatte er ihm gerade nicht erlaubt, zu gehen.
Jako schluchzte.
"Bitte...ich...wir helfen dir auch.
Ich hab dich doch so sehr lieb.
Aber bitte, bleib hier.",
brachte er krächzend heraus, war mit schnellen Schritten bei Niklas, zog ihn wenige Meter vom Dachrand weg und umarmte ihn so fest, dass er notfalls mit fallen würde, wenn Niklas stärker sein würde. Er hätte sich sonst niemals verziehen. Niklas weinte nun hemmungslos in die Brust des Größeren, hörte die beruhigenden Geräusche seines Freundes und das leise Schluchzen und die unsichtbare Decke aus Freundschaft, Liebe und Hoffnung. "Es wird wieder alles gut, ich versprech's.", sagte Jakob und strich Niklas über den Rücken, ehe er ihn wieder auf die Beine hiefte und mit dem Kleineren zur Dachtür ging, um zurück zu dessen Wohnung zu gehen. Niklas wurde nach einiger Zeit in Jakos warmen und tröstenden Armen und leisem Gesang auf seinem Bett bewusst, dass er auf keinen Fall einen Resetknopf wollte.

Er wollte auch nicht mehr allein sein.
Und er spürte aus dem tiefsten Inneren, dass er gewollt war und geliebt wurde, und dass er noch eine Weile auf diesem Planeten leben wollte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 02, 2019 ⏰

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