Ludmila hatte die Jacke nicht an. Das gibt's doch nicht. Normalerweise tragen wir unsere Jacken alle tagtäglich. Unsere Mütter haben striktes Verbot, die Jacken zu waschen. Und wenn sie darauf bestehen, müssen sie es nachts machen. Wenn sie es nicht schaffen, dass die Jacke am nächsten Morgen wieder trocken ist, ziehen wir unsere Jacken nass an. Um unseren Müttern eine Lektion erteilen.
Gerüchteweise hab ich sogar gehört, einige Mütter haben heimlich eine zweite Jacke gekauft, damit es nicht auffällt, wenn sie die Jacke mal waschen. Deshalb kann ich gar nicht verstehen, wieso Ludmila ohne Jacke kommt. Vielleicht hat sie sie unsichtbar gezaubert, um mich zu ärgern.
Es ist wirklich schlimm. Ludmila hat es doch eh schon besser als die meisten und jetzt ist sie auch noch eine Hexe.
Das Leben ist ungerecht. In jeder Beziehung.
Außerdem habe ich heute bei uns zu Hause ein Naturschauspiel verpasst: Meine Mutter ist ausgeflippt, als sie Lucys Zimmer sah. Aber volle Kanne. Sie hat getobt, geschrien, gedroht und sogar geflucht.
Zum ersten Mal in ihrem Leben reagierte sie wie eine normale Mutter und ich wr nicht dabei. Mist. Aber Lucy hatte sich wirklich ein starkes Ding geleistet: Lucy wollte eine Höhle, so wie die Feuersteins.
Genau betrachtet war es eigentlich schon nötig, dass Lucys Zimmer mal neu tapierziert und gestrichen wird. Denn Lucy hatte im Lauf der Zeit all den niedlich kleinen Prinzessinnen, die auf ihrer Tapete Ringelreihe tanzten, Schnurrbärte gekritzelt, Zähne eingeschwärzt oder Augenklappen gemalt. Und überall hat sie Monster und ekliges Getier hingepinselt.
Gruselig. Also wenn ich kurz vorm Zubettgehen noch mal in Lucys Zimmer musste, hatte ich nachts Alpträume.
Sie hatte sich also für die Feuerstein - Höhle entschieden und fing an, mit einem sumpfigen Grau-Braun die Wände zu streichen.
Auf sie Auswahl der Farbe hatte sie nicht wirklich Einfluss, da unsere Mutter ja nicht erlaubt hatte, Farbe zu kaufen. Also hat Lucy einfach alle Farbreste, die sie im Keller gefunden hat, zusammengeschüttet.
Mit dem Streichen hatte sie allerdings nicht besonders viel Übung und so gingen ein paar Striche auf die Fußleiste. Lucy, praktisch wie sie nun mal ist, hat gedacht: Gut, dann streiche ich die Fußleiste auch braun.
Dabei ging etwas Farbe auf den Türrahmen und Lucy hat gedacht: Gut, dann streiche ich den Türrahmen eben auch braun.
Dabei kam etwas Farbe auf die Tür und Lucy dachte: Gut, dann streiche ich auch die Tür braun. Und dasselbe dachte sie auch bei der Türklinke, beim Fenster und so weiter.
Um es kurz zu machen: Das Zimmer ist komplett braun. Wände, Decke, Tür, das Fenster - inklusive Glas! - und sogar Teppich: Alles ist braun gestrichen. Denn es kam auch etwas Farbe auf den Teppich...
Ehrlich, es ist grauenhaft. Auch wenn Lucy meine Lieblingsschwester wäre, würde ich das sagen. In Diktaturen würde man dieses Zimmer als Verhörzimmer benutzen. Jeder würde sofort alles gestehen, nur um schnell wieder das Zimmer verlassen zu können.
Lucy war sehr zufrieden mit ihrer Arbeit, aber sie war die Einzige.
Meine Mutter hat derart gebrüllt, dass sie danach zwei Stunden lang keinen Ton mehr rausgebracht hat. Und als sich ihre Stimme wieder einigermaßen erholt hatte, hat sie Lucy heiser angeflüstert, dass Lucy ihr Zimmer auf der Stelle verlassen und zu mir ziehen soll.
Na bravo, jetzt werde ich auch noch bestraft. Meine Mutter hat versucht, einen Maler zu beauftragen, um den Schaden wieder zu beheben. Drei verschiedene Malerbetriebe waren da. Alle haben sich geweigert, dieses Zimmer wieder in Orginalzustand zu versetzten.
Dann kam Lucy eine Idee: "Frag doch mal den Peter Wolf."
Peter arbeitet auch beim Theater. Er ist Kulisenmaler. Wir kennen ihn ganz gut. Früher war er oft bei uns.
Meine Mutter und er mussten zusammenarbeiten. Mal bei ihm, meisten bei uns. Eigentlich weniger Theater, aber egal.
Eines Tages kam er dann nicht mehr. Das heißt, wenn man's genau nimmt, er hat immer wieder angerufen, aber meine Mutter sagte jedes Mal, sie habe keine Zeit. Na, die ist ja auch gut, entweder müssen die zusammenarbeiten oder nicht, da kann sie doch nicht einfach sagen, sie habe keine Zeit. Also so ist meine Mutter.
Peter war richtig klasse. Er war immer auf unserer Seite und zu dritt haben wir meine Mutter an den Rand des Wahnsinns getrieben. Er hatte echt noch schlimmere Ideen als Lucy. Meine Mutter hat gejammert, was sie wohl in ihrem letzten Leben verbrochen habe, dass sie zur Strafe mit Leuten wie uns umgeben ist.
Jedenfalls kam Peter irgendwann nicht mehr, und wenn wir nach ihm gefragt haben, hat meine Mutter immer richtig schlechte Laune gekriegt.Und als Lucy jetzt Peter erwähnte, zischte unsere Mutter sofort, das käme nicht infrage. Sie habe die Nase voll von Lucys guten Ideen. Was dabei herauskommt, würden wir ja sehen. Lucy sollte sich jetzt mal 'ne Weile zurückhalten.
Aber Lucy hat ja diese "Eigenschaft" (ich meine den Ungehorsam). Sie ist gleich darauf los zum Theater und hat mit Peter verhandelt.
Er war unschlüssig und hat Lucy zweimal gefragt, ob das wirklich okay wäre für unsere Mutter.
Lucy hat gesagt, klar, unsere Mutter habe sie ja geschickt.
Peter hat dann gestrahlt und versprochen morgen vorbeizukommen.
Manchmal hätte ich gerne Lucys Nerven. Gerade ist sie mitten im Erzählen eingeschlafen. Und sie sieht richtig süß aus.
So übel ist es nicht, mal ein oder zwei Nächte mit ihr im selben Zimmer zu sein.
Vor lauter Lucy-Stress hätte ich fast mein eigenes Drama vergessen.
Ich trau mich gar nicht, Gerlinde die Sache mit dem Bären zu erzählen. Bestimmt hält sie mich für völlig verantwortungslos. Womöglich werde ich jetzt aus dem Club der Hexen ausgeschlossen, weil ich meinen Zaubergegenstand verloren habe. Ist doch echt bescheuert, ich komm in keinen Club rein oder wenn, flieg ich gleich wieder raus. Was soll nur aus mir werden. Ich bin die schlechteste Hexe der Welt. Ach wo, eben gar keine mehr.
![](https://img.wattpad.com/cover/72874703-288-k192312.jpg)
DU LIEST GERADE
Hexen küsst man nicht
Teen FictionVioletta ist unglaublich verliebt. Aber ihre Rivalin Ludmila scheint irgendwie bessere Chancen zu haben bei Federico dem Sänger der Schulband. Doch plötzlich passieren seltsame Dinge, die fast schon an Zauberei grenzen. Es sieht so aus, als wenn Vio...