Zeitlosigkeit

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ich weiß einfach nicht mehr wer ich sein soll. Welcher Mensch ich sein soll und vor allem wie. Jeder schaut mich an und verzieht danach das Gesicht, als würde es nichts auf dieser Welt geben, was schlimmer ist als ich. Sie schauen mich an und erwarten, dass ich stark bin und groß und der Herrscher über mich selbst. Sie erwarten von mir das ich ein Mensch bin, der einfach da sitzt und das tut, was jeder tut. Das ich nur so da sitze und entweder schweige oder rede. Doch ich weiß einfach nicht wie ich dieser Mensch sein soll. Denn ich weiß nicht wie sich so ein Mensch benimmt. Ich weiß nicht wie ich mich verhalten soll, um dieser Mensch zu sein. Ich will dieser Mensch sein, denn alle erwarten, doch ich kann nicht das sein, was von mir erwartet wird. Ich bin viel zu wenig. Ich habe zu wenig von allem. Zu wenig Liebe. Zu wenig Vertrauen. Zu wenig mehr. Zu wenig von allem. Und weil ich von allem zu wenig habe, erwarten sie zu viel. Doch sie verstehen nicht, dass es schwer ist jemanden zu verlieren. Das es schwer ist Antworten auf all die Fragen zu finden. Antworten, die gar nicht existieren. Denn die Menschen die ich verloren haben, haben für mich keine Antworten mehr. Niemand hat das.

Ich hörte ein Klopfen und stand auf. Mühsam und langsam. Vor der Tür standen Ashley und Jared. Sie sehen beide müde aus, aber trotzdem wirken sie so normal. Wie normale Jugendliche. Nicht so verloren. So als hätte man ihnen niemals zeit genommen. Als hätte man ihnen als Glück geschenkt und niemals an ihnen gezweifelt.

Sie stehen einfach still da vor mir und starren auf meine Handgelenke. Es sind noch mehr Narben geworden. Ich wünschte, sie würden mir in die Augen sehen. Doch das tun sie nicht. Sie schauen meine hässlichen, vernarbten Handgelenke an ohne irgendwas zu sagen. Was kann ich sagen, damit sie mir ins Gesicht schauen? Wann schauen sie mich endlich an. Nicht nur jetzt. Wann schauen sie mich an und verstehen mich und all meinen Schmerz.

"Was wollt ihr? Mir beim sterben zusehen?", meine Stimme ist kalt. Ich höre sie in meinem Kopf wie ein Echo. Mir beim sterben zuschauen. Beim sterben.

Ich habe schon so oft darüber nachgedacht, aber ich habe es nie so ernst gemeint. Ich habe mir früher immer eingeredet das es einfacher ist zu sterben, doch ich habe es nie wirklich so gemeint. Es war für mich einfach einfacher mir etwas einzureden. Doch das war damals. Heute ist es anders. Ich rede mir nichts mehr ein. Ich meine alles genauso wie ich es sage.

Meine Worte hallen noch immer in meinem Kopf nach. Sie fliegen langsam durch den Raum. Man kann ihn hinterher schauen, nach ihnen greifen. Die Worte sind im Raum. Sie sind ausgesprochen und man kann sie nicht zurück nehmen. Und wir alle wissen, dass es bald zu Ende sein wird. Es ist nicht das Ende der glücklichen Momente, die ich mit den beiden erlebt habe. Es ist nicht das Ende unserer Freundschaft. Es wird mein Ende sein. Mein eigenes ganz persönliches Ende.

"Sag sowas nicht!", Jared hat anscheinend seine Sprache wiedergefunden,"Du wirst nicht sterben! May, bitte, sag das du das nicht ernst meinst!", er kam auf mich zu und nahm meine Hand. Er lehnte seine Stirn an meine. Ihn konnte ihn atmen hören und er flüsterte immer wieder: "Sag sowas nicht!"

Und mit diesen Worten, beschloss ich zu gehen. Ich setze mir ein Zeitlimit. Noch einen Monat, dann werde ich gehen. Einen Monat in dem ich versuche mein Bestes zu geben. 31 Tage, an den ich alles gebe. Dann kann ich sterben. Und muss nicht mehr mit dieser Last leben.

Es ist Mai.

Und es regnet.

Frühlingsregen.

Und niemand sagt was danach passiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt