Selbstzweifel

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2. Mai. Dienstag.

Ashley will heute mit mir shoppen. Ich war schon lange nicht mehr shoppen. Ich kann einfach nicht in einer kleinen Umkleidekabine stehen, in der ich mich von allen Seiten betrachten kann. Betrachten, mit all meinen Selbstzweifeln. Ich sehe mich von allen Seiten und komme mir dadurch so hässlich vor. Hässlich von außen und besonders von innen. Als könnte das grelle Licht der Umkleidekabine durch meine Haut leuchten und den Blick auf mein Inneres frei gibt. Ich finde mich so abstoßend und automatisch fühle ich mich in dem schönen Kleid was ich gerade anprobiere hässlich.

Ich warte vor der Tür auf Ashley. Sie will mich abholen. Also warte ich und denke. Zu viel. Über Dinge die ich vergessen sollte. Wann habe ich mich das letzte Mal selbst verletzt? Wann habe ich das letzte Mal übers sterben nachgedacht? Gestern? Vorgestern?
Es ist erst ein Tage meines Zeitlimits um. Mir stehen noch 30 bevor. Ich weiß nicht ob ich es schaffe jeden Tag aufzustehen. Es war heut schon schwerer als gestern und es ist erst Tag Zwei!

Wieso habe ich Ashley und Jared eigentlich geschrieben das alles Okay ist? Hätte ich einfach einen Abschiedsbrief geschrieben und hätte dann Schlaftabletten genommen, wäre jetzt alles vorbei. Ich müsste keine 30 Tage aushalten. Ich müsste meinen Freunden nichts vormachen. Ich müsste mir selbst nichts vormachen. Ich wäre jetzt schon längst tot. Habe ich dieses Zeitlimit für meine Freunde gesetzt oder für mich. Damit ich mich verabschieden kann, oder weil ich noch nicht bereit bin?

"Hey May!", Hörte ich Ashleys fröhliche Stimme.
"Hey Ash!", Antwortete ich mindestens genauso fröhlich.  Alles gespielt. Alles gelogen.
"Das wird wie in guten, alten Zeiten! Okay?", Sie umarmte mich.
"Okay!", Sagte ich bestimmt. Gespielt. Gelogen.

Als ich am Abend nach Hause kam, war ich stolz auf mich. Ich war stolz darauf, dass ich nicht aus der Umkleidekabine gerannt bin und das ich den Tag zum besten gemacht hab. Der Tag war schön! Unerwartet schön!

Ich lief ins Badezimmer. Ein Zimmer mit einem weiterem Spiegel. Kein beleuchteter, großer Spiegel. Aber ein Spiegel, der gerade Mal so groß ist, um mein Gesicht zu sehen. Vielleicht habe ich mich heute zu oft angesehen, denn ich brach in Tränen aus. Ich schaute mich an und fühlte mich so alleine. Vielleicht war der Tag zu schön. Und die Zeit die jetzt kommt. Die Zeit während der ich Nachts alleine bin, ist zu traurig. So traurig, dass sie nach diesem glücklichen Tag so stark hervorsticht.

Ich weinte und sah mein verschwommenes Spiegelbild. Mein trauriges Ich. So traurig und voller Albträume.

Ich Griff nach der Rasierklinge.

Und ich spürte das Blut und meine Tränen. Die unter Schmerzvollen Lauten mein Gesicht und Handgelenk runterliefen und auf den Boden tropften.

Mein rotes Blut auf meiner weißen Haut mit meinen Ebenholz farbenden Haaren, die vor mein Gesicht fielen. Ich bin Schneewittchen. Schneewittchen, die sich nicht an einem Apfel verschluckt, sondern an ihrem Selbstzweifeln. Schneewittchen die nicht wieder aufwacht, weil sie ihren Apfel ausspuckt. Die Selbstzweifel sind viel zu tief um sie wieder ausspucken zu können.
Ein Schneewittchen, was für immer in einem Gläsernen Sarg schläft.

Und niemand sagt was danach passiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt