Saja - I

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Es ist spät, als wir die Wohnung wieder betraten. Vollgefressen und zufrieden schmiss Lola sich aufs Sofa, während ich noch kurz die eben mit reingebrachte Post durchsah.
"Und?", rief Lola aus dem Wohnzimmer zu mir in dem Flur, "Was Interessantes dabei?"
Ich verneinte lachend. Es war hauptsächlich Werbung, Abrechnungen, Kontoauszüge (ich war grundsätzlich zu faul, sie mir am Automaten rauszulassen) sowie Briefe von diversen Ämtern. Ein Umschlag glitt mir beim Durchsehen aus den Händen. Mich über meine Schusseligkeit ärgernd legte ich die restliche Post auf die Küchenzeile, deren hellgraue Fronten auch mal wieder eine neuen Anstrich vertragen könnten, ehe ich mich bückte. Stirnrunzelnd drehte ich den Umschlag in meinen Fingern um. Kurz setzte mein Herz einen Schlag aus, als ich den Absender las.
Wortlos verschwand ich in mein Schlafzimmer, von wo aus ich auf einen kleinen Balkon gelangte. Leise schloss ich die Tür hinter mir, lehnte mich an die Wand. Immer noch hielt ich den Brief in meiner Hand, der mir kurz zuvor auf den Küchenboden gefallen war. Mein Magen verkrampfte.
"Gib mir den Morgen danach. Weck' mich auf, wenn ich schlaf. Verdammt, was soll das?", schoss es mir durch den Kopf.
Auf der Rückseite des Umschlags entdeckte ich einen kurzen Satz, eher eine Frage und mir wurde übel.

Unser letztes Gespräch ist verdammt lang her, erinnerst du dich?

No shit, Sherlock? Ein verächtliches Lachen entfuhr meiner Kehle. Ja, ich erinnerte mich. Fast so, als wäre es erst vor einer Stunde gewesen. Die altbekannte beklemmende Unruhe breitete sich in mir aus. Ich hieß mich selbst eine Idiotin, schüttelte den Kopf. Komm schon, Saya, du bist 28, reiß dich zusammen! Mit geschickten Fingern zog ich mein Handy aus der Hosentasche. Schnell flog mein Daumen über das Display, um es mit dem simplen Zahlencode '7227462' zu entsperren. Schnell öffnete sich mein Messenger und ich klickte auf einen den wenigen Chats, die ich seit Jahren nicht gelöscht hatte. Durch die In-App-Schnellsuche gelangte ich zum Datum von vor zwei Jahren. Damals hatte ich die Nachricht, die mich seither so quälte, an einen Freund geschickt, da ich damals fassungslos über die an mich gerichteten Worte war und eine Meinung dazu wollte. Zum bestimmt tausendsten Mal las ich die Zeilen, die auf dem Display in meiner Hand flackerten.

'... Von all den menschlichen Enttäuschung in meinem Leben bist du die absolute Spitzenreiterin...'

'... Lässt all deine Freunde, die eigentlich seit Jahren hinter dir standen, im Stich, weil du dir in den Kopf gesetzt hast, dass irgendwer, den du aus dem Internet kennst, plötzlich wichtiger ist...'

'... Und deine Mutter kann dir nicht so viel bedeuten, wenn du irgendwelche unbedeutenden Menschen und eine Stadt, mit der du sonst nichts am Hut hast, ihr vorziehst...'

Ich schluckte. Es tat nicht weh, weder damals noch heute. Aber es beschäftigte mich. Lies mich damals wieder heute an mir zweifeln. Mit leerem Blick starrte ich in die Nacht, als ich ein leises Klicken neben mir vernahm. Schnell verschwand das Mobiltelefon wieder in meine Hosentasche.
Mein Kopf drehte sich nicht zur Seite. Ich wusste, dass Lola neben mir stand. Auch den unschlüssigen Ausdruck ihrer Augen musste ich nicht sehen, um zu wissen, wie sie mich damit musterte.
"Willst du Tee?"
Meine Mundwinkel zuckten kurz, dann nickte ich. Sie ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Für ihre verständnisvolle Art war ich ihr unendlich dankbar. Mittlerweile wusste sie, wie sie mich handhaben musste und in welchen Situationen sie was tun und was sie lassen konnte. Nach einigen weiteren Minuten begab ich mich wieder rein.
Lola stand noch in der Küche, damit beschäftigt, den Tee zu machen. Ich lehnte mich in den Türrahmen. Gerade, als ich etwas sagen wollte, wurde ich stutzig. Da standen vier Tassen. Wieso, zur Hölle, standen da vier Tassen? Räuspernd zog ich Lola's Aufmerksamkeit auf mich. Sie zuckte kurz, bedachte mich dann aber mit einem Lächeln. Eines von der Sorte, die sie viel zu selten zeigte. Und meist hatte das auch seine Gründe.
"Vier Tassen, Lola?", brummte ich, "Hab ich was verpasst?"
Ihr Lächeln wird breiter, dann reißt sie erschrocken die Augen auf und wird leichenblass. Noch bevor ich mich umdrehen kann, um zu erfahren, was sie so in Schock versetzt hat, erklingt eine sanfte, altbekannte Stimme hinter mir. Bitte nicht...
"Für mich bitte keinen Honig, Lola. Oh, hi Saja!"
Wie angewurzelt blieb ich mit dem Gesicht zu Lola gerichtet stehen, formte ein stummes 'Nein' mit meiner Lippen. Unsicher sah mein Gegenüber zur Seite. Ok, das musste einfach ein schlechter Witz sein. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, betete, ich würde mich irren. Doch noch bevor ich es mir selbst auch nur im Ansatz glaubwürdig einreden könnte, bemerkte ich das Kribbeln meiner Narben. Erst, als der Wasserkocher piepte, lösten sowohl Lola als auch ich mich aus unserer Starre. Sie goss das heiße Wasser in die Tassen, welche sie auf ein Tablett stellte. Ein Nicken in meine Richtung bedeutete mir, dass nach wie vor jemand hinter mir stand. Nervös drehte ich mich um und sah sie.
"H-Hallo", gab ich stotternd von mir.
"Wow, für die Antwort hast du so lang gebraucht?", entgegnete man mir.
Sichtlich darum bemüht, keine emotionale Regung zu zeigen, nahm ich meine Tasse vom Tablett und machte mich auf den Weg in mein Schlafzimmer.
"Wenn dir das Tempo, indem ich antworte, nicht passt: Du weißt, wo die Tür ist, Sam."

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