Rise

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Als Kind erzählte mir mein Großvater eine Geschichte.

Die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde wurden in einer Menschen ähnlichen Gestalt von einer höheren Macht auf einen kargen, leblosen Planeten gesetzt um ihm Leben einzuhauchen. Das Feuer, Cyrano, erschuf glühende Lava, das aus Vulkanen strömte, die von der Erde, Ambar, ebenso geschaffen wurden wie die Natur und Tiere. Das Element des Wassers, Hyperio, durchflutete die tiefen Schluchten des Planeten, die wie Narben wirkten. Das Element der Luft, Levitia, veränderte die Atmosphäre und lies den Wind durch ihre Finger tanzend auf die Erde nieder.

Nachdem ihr Werk vollendet war, streifen die vier Elemente durch die Welt. Bald schon kam Neid auf. Nur auf dem Land waren Lebewesen; die von Ambar erschaffenen Tiere, die wir heute als Waldbewohner bezeichnen würden. Eichhörnchen, Hirsche, Dachse, Hasen. Hyperio empfand es als Ungerechtigkeit, dass das Land bewohnt wurde, seine grenzenlosen Gewässer allerdings leer blieben. So wandte er sich an die Erde, Ambar.
„Sprich, Ambar, mit welcher Macht war es dir möglich, Wesen zu schaffen?"
Die Erde antwortete in ihrer unendlichen Ruhe und Beständigkeit.
„Hyperio, mein Bruder. Es dir zu sagen wäre zwecklos, so lass es mich dir zeigen."
Sie fuhr sich mit den spitzen Fingern über die Fingerkuppen und stach schließlich in eine Kuppe hinein. Eine bräunlich-grüneFlüssigkeit floss zäh aus der Wunde. Der Tropfen löste sich von ihrem Körper und schwebte vor ihr in der Luft. Mit einem milden Blick sagte sie zu Hyperio:
„Du musst etwas geben, dass dir eigen ist und ihm mit etwas, das dir kostbar ist, Leben einhauchen."
Sie küsste den Tropfen, der vor ihr schwebte und er verwandelte sich.
„Was...? WAS IST DAS?!", fragte Hyperioirritiert.
„Ein Abbild meiner Selbst, meines Inneren. Ein Reh.", antwortete Ambar, „Es soll über die Wälder wachen, mit Sanftmut und Güte herrschen und die Natur beschützen."

Hyperio verstand und begab sich zum Ozean. Lange starrte er auf das Wasser. Was für ein Geschöpf würde er wohl erschaffen? Es gab nur eine Möglichkeit. Wie zuvor Ambar stach er sich in eine seiner Fingerkuppen. Auch bei ihm trat eine zähflüssige Substanz aus, doch schimmerte sie bei ihm in den unterschiedlichsten Blautönen. Hyperion hielt seinen Finger in das Wasser und sah, wie der Tropfen begann sich zu verformen. Schließlich erkannte Hyperio eine flache, majestätische Kreatur unter der Oberfläche. Er tauchte mit dem Kopf in das kühle Nass ein und erkannte einen Rochen als sein Abbild. Zufrieden übergab Hyperio dem Rochen die Aufgabe über das Meer zu herrschen, mit Anmut und Fairness. Er verbrachte einige Zeit dort um weitere Kreaturen, Fische und Amphibien, zu kreieren. Dann kehrte er zurück zu den anderen Elementen. Sein Neid war verflogen.

Die Luft, Levitia, bemerkte die Lebendigkeit auf der Erde und im Wasser. Sie wollte es ihnen gleich tun, also lies sie sich in die Kunst des Erschaffens von Leben einweihen. Daraufhin gestaltete auch sie die unterschiedlichsten Tiere, Vögel und kleinere fliegende Insekten, und schließlich ein Ebenbild ihrer selbst; eine Eule. Wie auch die Abbilder der anderen Elemente sollte sie über die Lüfte regieren und für Recht und Ordnung sorgen. Mit Weisheit in den Augen und unbeugsamen Willen flog das Tier hinfort.

Cyrano, das Feuer, hingegen tobte. Heimlich hatte er Erde, Luft und Wasser beim Erschaffen von Leben beobachtet und war nun zornig. Kein Lebewesen würde je die Hitze des Feuers überstehen. Wie sollte er so nur ein Bildnis seines Inneren gestalten? Er wollte es so sehr! Von tief sitzender Wut getrieben ließ Cyrano heiße Lava aus sämtlichen Vulkanen. Die ganze Welt sollte brennen! Seine Augen glühten. Er spie Flammen in den Himmel, so heiß, dass sie sich zu einem großen, strahlenden Himmelskörper manifestierten - wir kennen diesen Himmelskörper heute als die Sonne. Tobend und zerstörend zog Cyranoüber den Planeten und verbreitete Chaos und Unheil.

Angsterfüllt erkannten die anderen Elemente, dass ihr Bruder verloren war. In seinem schier grenzenlos Neid hatte er sein Bewusstsein aufgegeben. So schlossen sich Wasser, Luft und Erde zusammen, wissend, es könnte sie ihre Existenz kosten. Doch es blieb ihnen keine andere Wahl. Cyranomusste aufgehalten werden.

An dieser Stelle hörte mein Großvater immer auf. Was dann passierte sei nichts für die Ohren eines kleinen Mädchens, sagte er. Erst Jahre später, als ich schon ein Teenager war, fuhr er fort und berichtete von dem Kampf, der dann zwischen den Elementen herrschte. Er sprach von einer ungleichen Schlacht, drei gegen einen, die wie zu erwarten Hyperion, Levitia und Ambar als Sieger hervor brachte.
„Doch nachdem sie Cyrano geschlagen hatten und er entkräftet am Boden lag", so sagte mein Großvater, „stieg die höhere Macht auf den Planeten und sah die Spuren des Kampfes. Enttäuscht stellte die höhere Macht fest, dass die Elemente sich bekriegt hatten und all das, was sie erschaffen hatten, zerstört war. So belebte die Macht die Schöpfung der Elemente wieder, bestrafte allerdings deren Erschaffer. Sie wurden von der Erde verbannt, in eine andere Welt geschickt und sollten dort über ihre Taten nachdenken."
Als ich ihn eines Tages fragte, warum er mir diese Geschichte so oft erzählt hatte, bekam ich eine Antwort, mit der ich nicht gerechnet hatte.
„Weil ich nicht möchte, dass du dein Schicksal herausforderst. Ich habe dir nie das Ende der Geschichte verraten. Die höhere Macht, die die Elemente auf die Erde sandte, hat die Welt ja wiederhergestellt, die von Cyrano und den anderen Elementen in ihrem Kampf zerstört wurde. Sie hat die Entwicklung beobachtet, die auf diesem Planeten stattfand. Das ist unser Planet, meine Kleine. Und als eben diese Macht feststellte, dass die Menschen den Elementen ganz ähnlich waren - dass sie sich ebenfalls bekämpften - beschloss die höhere Macht, all jene leichtsinnigen, törichten Menschen in die Welt der vier Elemente zu verbannen, die ihr Schicksal herausforderten und dem Planeten und seinen Geschöpfen schadeten. Ich will dich nie in dieser Welt suchen müssen, also sei ein guter Mensch!"
„Ja, Opa, sicher. Also ob ich jemals in so eine Welt geraten würde."
„Forder es nicht heraus, Kleines. Sowas passiert schneller, als einem lieb ist."

Damals glaubte ich ihm kein Wort. Aber jetzt...

"Hey Saja, sag mal, was machst du da?", fragte man mich.
Ich starrte mürrisch auf den Bildschirm, massierte mir mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken, während das vor mir Geschriebene mich schier in den Wahnsinn trieb.
"Ach nichts, Lola. Ich versuch' nur, mit der Geschichte, die ich vor Ewigkeiten angefangen hab zu schreiben, weiterzukommen", entgegnete ich ihr.
Erneut überflogen meine Augen das Geschriebene. Seit Monaten kein Fortschritt. Das war so nervig. Sonst ging mir eine Geschichte, sei es eine wahre Begebenheit oder reine Erfindung, leicht von der Hand. Aber das hier, das war eine ganz andere Hausnummer. Etwas das mir wirklich Probleme bereitete. Vielleicht wegen dem Gedanken, der dahinter steckte. Genervt dehnte ich meinen Hals, wobei einzelne Wirbel knackten. Hinter mir lies Lola ein leises "Ihhhh" verlauten. Sie hasste dieses Geräusch. Ein Lächeln huschte für einen Augenblick über meine Lippen. Meine Finger fanden den 'Sleep'-Knopf an der Seite des Bildschirms, den sie sofort drückten. Ich stieß mich mit meinen Händen vom Schreibtisch ab, rollte mit meinem Bürostuhl nach hinten in Richtung Lola und hielt direkt neben der Couch, auf der sie herumlungerte. Sie hob ihren Blick von ihrem Smartphone, legte den Kopf schief. Ihre grau-grünen Augen funkelten mich an. 
"Is' was?", murmelte sie in ihrer niedlichen Tonlage, wobei sie sich eine rote Strähne von ihren ansonsten dunkelbraunen Haaren hinter ihr Ohr strich.
"Kimchi?", grinste ich verschlagen und sah sofort die Begeisterung in ihrem Blick. 
Sie sprang auf, lief in Richtung Tür, in deren Rahmen sie stehen blieb.
"Was denn? Erst den Vorschlag machen und dann brauchst du 'ne extra Einladung?", lachte sie fröhlich, hielt dann aber kurz Inne. "Sag mal..."
Schmunzelnd stand ich auf, überwindete die Distanz zwischen uns. 
"Nein. Nur du und ich. Heute", kicherte ich, während ich mir durch meine kastanienbraunen Haare fuhr und ihr zuzwinkerte, "ist Schwesternzeit!"

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