Yoongi

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Am Samstag war es schließlich so weit. Unter einen Vorwand begleitete mich Claire zur Bibliothek und wartete geduldig draußen.
Ich hatte das Buch mit, welches ich für mich ausgeliehen hatte und meinte, ich würde es gegen ein anderes austauschen. Claire hatte nichts dagegen, wollte aber mit. Sie führte aber ein wohl wichtiges Telefonat, wenn ich drinnen war, hatte sie angekündigt.
Das war mir natürlich mehr als recht.

Ich drückte auf den ersten Knopf meiner digitalen Armbanduhr und mir wurde Wochentag, Datum und Uhrzeit genannt.
Es war gerade sechzehn Uhr achtundzwanzig. In zwei Minuten war ich mit Yoongi und Namjoon verabredet.

Ich sputete mich und lief in meine Abteilung. Wieder tippte ich alle Bücherregale an, die ich passierte und bog schließlich bei den Hörbüchern ab.
"Ah, da bist du ja schon", hörte ich Namjoons Stimme erfreut sagen und ich hätte mich beinahe zu Tode erschrocken, hoffte aber, dass er es mir nicht angesehen hatte.

"Du bist ziemlich überpünktlich, konntest du es nicht erwarten, mich wiederzusehen?", fragte ich belustigt schnaubend und setzte ein kleines Lächeln auf.
"Ach, eigentlich hatte ich mich hier noch ein wenig umgesehen. Um die Bibliothek besser kennenzulernen. Ich bin normalerweise in kleinen, versteckten Buchläden unterwegs. Die Größe hier ist gewöhnungsbedürftig."
Namjoons Stimme kam bei jedem Wort näher. Er klang locker und gut gelaunt. Bisher hatte ich ihn immer nur gutgelaunt angetroffen.

"Ah, hast du dich auch oben umgesehen? Von der Erhöhung aus hat man einen schönen Blick auf den unteren Teil der Bibliothek und die Leseecke ist wirklich schön gestaltet, auch wenn sie vor einem halben Jahr die Sitzgelegenheiten ausgetauscht haben", erzählte ich und dachte an die Zeit, in der ich weniger gelesen hatte.
Ich war nur hier, wenn Claire wieder ein Buch für ihren Studiengang benötigte, dann hatte ich mich immer in eines der Sitzkissen geworfen und beobachtet, wie sie hin und her lief, bis sie ein Buch fand, das sie benutzen konnte.

Namjoon räusperte sich. "Tut mir leid, dass ich das frage, du musst auch nicht antworten, aber ... wie lange ist das jetzt schon so?", fragte er. Ich wusste natürlich, was er meinte, spielte aber das Dummchen.
"Was meinst du? Die Leseecke? Die gab es schon, als ich noch ein kleines Kind war. Mit fünf kam ich zum ersten Mal her, da war oben schon alles eingerichtet."
"Nein, das meine ich ja gar nicht. Du weißt schon. Wie lange bist du jetzt schon blind?", fragte er.
Ihm schien die Frage unangenehm, empfand sie für ihn aber wohl trotzdem als so wichtig, dass er sie einfach stellen musste.

"Noch nicht sehr lange. Aber lange genug, um sich daran zu gewöhnen und damit umzugehen. Ein Jahr und vier Monate. Bald fünf", sagte ich, als wäre es mir relativ egal. Aber das war es ehrlich gesagt nicht.
Ich wollte bloß den Eindruck vermitteln, dass es mir nichts ausmachte.

Ich drückte auf dein Knopf meiner Uhr, um die schwere Stille zu unterbrechen. Es war bereits sechzehn Uhr fünfunddreißig.
"Yoongi hält wohl nichts von Pünktlichkeit, oder? Es war auch nichts anderes zu erwarten", lachte ich.
"Der Junge hat viel um die Ohren. Auch, wenn er es nicht so aussehen lässt", antwortete Namjoon. Ebenfalls lachend.
Ich hörte auf zu lachen. Es schien mir nach dieser Information nicht mehr richtig.

Es wurde wieder still und ich setzte mich einfach auf den kalten Marmorboden, lehnte mich an das Regal mit den Hörbüchern.
Namjoons Schuhe quietschten ganz leise und mit einem dumpfen Schnauben schien er sich ebenfalls hinzupflanzen.
"Ist es ein Uniprojekt, für das er dieses Buch lesen müsste?", fragte ich Namjoon neugierig. Dieser ließ ein weiteres Mal ein Lachen verlauten. Leicht belustigt, aber es klang sehr nett.
"Nein. In meinem Buchclub ist ein Mädchen, das ihm gefällt. Das blöde ist, sie steht auf Männer, die Bücher lesen. Yoongi will sie beeindrucken", erklärte er und ich hob das Kinn langsam zu einem Nicken an.

Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Dann musste ich schmunzeln.
"Dieses Mädchen tut mir wirklich leid", sagte ich.
Ich hörte das Rascheln von Namjoons Kleidung, wie seine Hand den Marmorboden berührte. Er musste sich zu mir gewandt haben.
"Wie meinst du das? Du hast glaube ich einen falschen ersten Eindruck von Yoongi bekommen. Er scheint manchmal echt mies gelaunt zu sein, aber in Wirklichkeit ist er ein guter Kerl", beschwichtigte Namjoon.
"Und was ist das dann mit dem Club? Ich meine, er lügt dieses Mädchen an. Das scheint mir nicht fair, ihr gegenüber. Wenn er sie wirklich mag und sie ihn, dann wäre es doch völlig egal, ob er nun eine Leseratte ist oder eben nicht. Manchmal verstehe ich Menschen, mit ihren Ansprüchen und Bemühungen nicht."

"Gibt es kein besseres Thema, über das man reden kann? Lästert ruhig weiter über mich. Ich würde gerne alles hören."
Ich öffnete die Augen wieder und blickte zu der schwummrigen Gestalt, die mir ein Teil des Lichtes nahm. Ich stellte mir Yoongi vor, wie er da mit verschränkten Armen stand, mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Fuß auf den Marmorboden tippend. Aber davon hörte ich nichts, also konnte ich letzteres wieder streichen, auch wenn es gut gepasst hätte.

"Ich kann es dir auch gerne ins Gesicht sagen." Ich stand auf und wandte mich an seine Gestalt.
"Man verarscht nicht einfach so Leute, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Ehrlichkeit ist viel ehrenwerter. Sagt ja schon das Wort", sagte ich ihm meine Meinung.
"Ich frage mich ja, was dich das überhaupt angeht?"

Nun war ich diejenige, die die Arme verschränkte. Ich blieb still, denn er hatte schon recht. Leider.
Ich zog mich zurück, setzte mich wieder auf den kalten Boden und lehnte mich nach hinten. Ich musste wohl ziemlich beleidigt aussehen, denn Namjoon stupste mich freundschaftlich an.
"Mach dir nichts draus, das ist Yoongi. Er meint es nicht so."
"Mädchen", gab Yoongi seinen Kommentar ab, doch ich ignorierte ihn.

Wieder wurde es ruhig. Man hörte das leise Hallen der anderen Besucher in der großen Bibliothek. Immer dann, wenn jemand einen Stuhl an einem Tisch zurückzog und sich setzte. Oder dann, wenn die Bibliothekarin den Bücherwagen umher schob, kurz anhielt und dann Bücher einsortierte, ehe sie weiter lief.

"Ich verstehe nicht, warum ich hergekommen bin, wenn wir sowieso nur hier rumsitzen und durch die Gegend starren", grummelte Yoongis Stimme und ich atmete laut aus.
"Na gut. Erzählt mir etwas von euch. Ich kenne eure Namen und auch, dass ihr in einem Bücherclub seid. Außerdem weiß ich, dass ihr neugierig seid."
"Neugierig auf was?"
Yoongis Ton klang herausfordernd.
"Auf mich. Sonst wärt ihr jetzt nicht hier, hättet euch gar nicht dafür interessiert, noch einmal hierhin zu kommen, nur weil ein dahergelaufenes, blindes Mädchen euch dazu aufgefordert hat", sagte ich und breitete mein triumphierendes Lächeln aus.

"Schonmal daran gedacht, dass wir bloß aus Mitleid hier sein könnten?", fragte Yoongi und mein Grinsen wurde nur breiter.
Der Junge konnte gut austeilen.

"Wie dem auch sei, wenn ihr mir meine Fragen beantwortet, beantworte ich eure. Deal?", fragte ich und hielt meine Hand ausgestreckt in die Luft.
Es dauerte eine Zeit lang, bis jemand sie ergriff. Die andere Hand war groß und warm, aber nicht verschwitzt. Was für ein Glück.
"Abgemacht", sagte Namjoon und schüttele sie.
"Yoongi?", fragte ich. "Traust du dich überhaupt ehrliche Antworten zu geben?"
Auch seine Hand war kurz darauf in meiner zu spüren. Sein Griff war fester, etwas bestimmter als der von Namjoon.

"Wenn du es dich traust."

Ich grinste und checkte kurz darauf die Uhrzeit. Siebzehn Uhr eins. Da musste sich Claire wohl noch eine Weile gedulden.

Bookshelf Conversations || kim namjoon / min yoongiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt