Prolog

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Die laute Musik drang angenehm in meine Ohren. Sie füllte mein ganzes Gehirn und ließ mich zufrieden seufzen.
Der neue Tag roch nach Sommer. Warm und willkommen. So fühlte sich auch die Sonne auf meiner Haut an.

Selig lächelte ich und schloss die Augen unter der Sonnenbrille. Ließ mich auf die Picknickdecke sinken und streifte mit meinen Händen über das warme Gras. Jeder Grashalm war einzeln zu spüren. Sie kitzelten meine Handflächen und die Unterarme.
Wow, war das ein tolles Gefühl.

Aber so schön wie der Moment war, musste er mir auch wieder zerstört werden.
Jemand zog mir meinen linken Kopfhörer aus dem Ohr, somit verstummte die Musik beinahe komplett, da der rechte leider nicht mehr richtig funktionierte. Diesen nahm ich ebenfalls raus und fuhr enttäuscht hoch.

"Was machst du denn alleine hier im Park? Du sollst nicht ständig alleine herumirren!", sagte Claire viel zu laut und ich hörte, wie sie sich raschelnd neben mich setzte. Die Augen hatte ich noch immer geschlossen.

"Das geht schon klar", erwiderte ich. "Ich brauchte bloß mal eine Auszeit von allem. Auch von dir", gab ich kleinlaut zu und zog die Knie an.

Meine Schwester, die sich um alles Sorgen machen musste, stöhnte laut und entnervt, was dann in ein mädchenhaftes Grummeln überging, das ihren Ärger klar machen sollte. Aber ich ging nicht weiter darauf ein. Dieses mal kam keine Entschuldigung.
Ich spürte, wie sie sich auf der Decke zu mir drehte. Die Wärme der Sonne wurde mir sogleich doch ein wenig zu viel und ich hätte sie mir am liebsten weggewünscht. Oder Claire, aber das wäre unfair.

Sie räusperte sich. "Ich verstehe, dass du auch deinen Freiraum brauchst, aber hier alleine rumzulaufen, das ... das ist einfach-" Claire räusperte sich ein weiteres Mal, bevor sie ihren Satz fortsetzte. "Das ist einfach viel zu gefährlich. Auch wenn du es nicht einsehen willst."

Claire zog bestimmt gerade ihr verständnisvolles Gesicht. Das mit dem sie einem klarmachen wollte, dass das was sie sagte das Richtige sei und es besser für einen war, das auch einzuhalten. Doch sie hatte nicht immer Recht. Nicht in diesem Moment.

"Ich bin gut klargekommen!", grummelte ich, lauter als beabsichtigt. Es tat mir sofort wieder leid, aber ich wollte mich nicht entschuldigen.

Claires Hand berührte sanft mein Handgelenk und tätschelte meinen Arm.
"Ich weiß, du kommst immer gut klar. Aber du kommst eben nicht mehr so gut klar wie jeder andere Mensch."

Ich zog meinen Arm sofort weg.

Sie hatte doch keine Ahnung, sie wusste doch nicht, wie gut ich mich schlug. Sie hatte doch keine Ahnung, wie selbstständig ich trotz all dem war.
Nasse Tränen liefen mir über das Gesicht. Das passierte immer, wenn wir über dieses Thema sprachen.

Claire wollte ihren Arm um mich legen, ich spürte ihre näherkommende Wärme, doch ich blockte ab, stand sofort auf und lief in irgendeine Richtung. Ich zog die Sonnenbrille ab und öffnete die Augen.
Große, farbig verschwommene Flächen waren zu erkennen, vermutlich ein Baum, den ich umging, das verschwommene Grün der Wiese, die das meiste meines Sichtfeldes einnahm und der Rest war weiß, das helle Blau des Himmels konnte ich nicht so gut erkennen.

Ich hatte vor einem Jahr und vier Monaten einen großen Teil meiner Sehkraft verloren. Achtzehn Prozent waren übrig geblieben. Verschwommene Farben konnte ich wahrnehmen, grob vermuten was vor mir war. Aber ich kam damit klar, ich hatte viel geübt, während Claire als meine Aufpasserin mit mir umherwanderte.
Ich hatte viele der Strecken auswendig gelernt und konnte sie nun auch blind gehen.

Aber manche Menschen konnten es einfach nicht einsehen, dass ich auch alleine klarkam. Dass ich selbstständig leben konnte und es einfach musste.
Ich war nun neunzehn, in einem Alter, in dem man normalerweise anfing zu studieren. Doch ich fühlte mich wie ein viel zu gut behütetes Kind, aufgrund einer Einschränkung, die mich nicht so sehr einschränkte, wie es viele vermuteten.

~Ich bin Lee Mika, ein blindes Mädchen, das sehen konnte.
Doch die sehende Welt um mich herum war vollkommen blind.~

Bookshelf Conversations || kim namjoon / min yoongiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt