Verständnis

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Natürlich mussten meine Schwestern mich ausfragen, als ich zur Tür hineinkam. Namjoon hatte noch darauf bestanden zu warten, bis ich drinnen war.
Dadurch war die Fragerei aber im Endeffekt umso größer.

"Ist er wirklich so ein Gentleman? Er sieht mir ein wenig unfreundlich aus", kam es von Claire.
"Sei leise, er ist richtig gutaussehend. Was habt ihr unternommen? Ist er cool?", löcherte Xena und quiekte so erfreut, als wäre sie mit ihm unterwegs gewesen, nicht ich.
"Hat er dich geküsst? So wie in den ganzen Filmen?", mischte Stella verträumt mit.

Ich saß dort auf einem Küchenstuhl. Bis zu meinem Zimmer hatte ich es nicht schaffen können, denn meine Schwestern hatten andere Pläne mit mir.
"Das war kein Date Leute. Könnt ihr euer Mädchengehabe bitte unter euch ausmachen? Das geht euch kein bisschen was an", meckerte ich und wollte aufstehen, doch jemand hielt mich zurück.
"Na komm schon, Mika, jetzt sei mal ein bisschen offener. Deine erste und letzte Beziehung ist jetzt schon zwei Jahre her, da warst du noch wie ein offenes Buch. Bevor du erblindet bist-"

Ich stöhnte genervt bei Claires Ansatz, mich irgendwie rumzubekommen, irgendetwas preiszugeben.
"Bevor ich erblindet bin, konnte ich mit den Augen sehen. Aber nicht mit dem Herzen oder dem Verstand", keifte ich wütend und drückte Claire langsam, aber mit Nachdruck von mir weg.
Sie hatte es immer noch nicht kapiert.

Ich tastete mich an der Flurwand entlang, bis in mein Zimmer und knallte wütend die Tür hinter mir zu.
Warum war es für Namjoon so schnell zu verstehen und für Claire umso schwerer? Wie konnte es sein, dass ein Mensch, den ich erst seit beinahe drei Monaten kannte, mein Inneres besser sehen konnte, als meine eigene Schwester?

Und ich hatte gedacht, endlich würde sie es nachvollziehen können, endlich würde sie es in den Hintergrund kehren und mich wieder wahrnehmen, wie ich war. Nicht das, was mich ihrer Meinung nach einschränkte.

Es klopfte leise an meiner Tür und ich schnaufte ein leises Herein.
Ich wollte keinen Stress provozieren. Nicht jetzt, wo eigentlich alles wieder im Reinen war.
"Es tut mir leid, ich habe mal wieder nicht nachgedacht", flüsterte meine ältere Schwester bedrückt und ich deutete auf den Platz neben mir auf dem Bett.

Ich nickte halbherzig.
"Ist schon in Ordnung, ich weiß ja, dass du nicht denken kannst, du hohle Nuss!", sagte ich und rieb mit meinen Fingerknöcheln über ihre Kopfhaut, als sie sich gesetzt hatte.
"Hey, meine Haare saßen gerade so perfekt!", schrie sie und drückte meine Hand weg.
Wir verfielen in ein glucksendes Kichern und schließlich in ein herzhaftes Lachen.

So fühlte es sich schon viel besser an. Viel mehr wie vor meiner Erblindung.
"Geh immer so locker mit mir um. Das gefällt mir viel besser und dir auch", sagte ich zu der Älteren und legte meinen Kopf auf ihre Schulter.
"Können wir einen Pakt schließen?"
"An was hast du gedacht, Mika?", fragte Claire und strich mir über das Haar.

"Schwöre mir, dass du mich nicht mehr bevormundest. Ich will, dass du dir keine Sorgen mehr um mich machst. Auch wenn ich nicht viel wahrnehme, ich lasse mich von genügend Menschen leiten, wenn ich es brauche. Ich weiß schon, wann die richtigen Zeitpunkte dafür sind. Außerdem sollst du mir versprechen, darüber Witze zu reißen", sagte ich und hielt ihr meinen kleinen Finger hin.
"W-witze darüber reißen? Das kann ich nicht", protestierte sie und ihre Haare kitzelten meine Nase, während sie den Kopf schüttelte.

"Doch, klar kannst du das. Ich kann es doch auch. Lach wenigstens über meine Späße, okay?"
Ich spürte zaghaft Claires kleinen Finger, wie er sich um meinen schloss. Danach berührten wir die Daumenspitze der jeweils anderen und hatten den Pakt geschlossen.
"Können wir jetzt wieder normal miteinander umgehen?"
"Ja, aber erwarte nicht von mir, dass sich das von heute auf morgen ändern wird. Ich muss mich da erst einmal dran gewöhnen."
"Ich weiß."

Glücklich lächelnd stand ich auf und ging auf meinen Schrank zu.
"Und jetzt, hilf mir etwas schönes für nächsten Samstag zu finden. Ich habe nämlich ein Date mit einem sehr charmanten, jungen Mann."

Das Outfit stand und Claire schmiedete Pläne für mein Make-Up, welches ich aber so gut wie möglich versuchte abzuwehren. Doch es ließ sich nicht vermeiden, sie wollte unbedingt, dass ich das schönste Mädchen war, welches er jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Von Namjoons und meiner tiefen, inneren Verbundenheit hatte ich ihr daraufhin nichts erzählt, das hätte sie genauso wenig davon abgebracht, wie die Metapher 'Wahre Schönheit kommt von Innen'.

Die Warterei auf diesen Tag war das Schlimmste. Ich war die ganze Zeit so hibbelig und aufgeregt, obwohl es sich eigentlich wie eines unserer normalen Treffen anfühlen sollte. Doch es fühlte sich irgendwie anders an. Aufregender, neu.

Namjoon und ich telefonierten in den eineinhalb Wochen nicht gerade viel. Vielleicht war er genauso aufgeregt wie ich?
Unsere Telefonate klangen jedenfalls nicht mehr frech und klug. Sondern eher albern und ohne durchdachten Inhalt.
Es brachte mich zum Schmunzeln, wenn Namjoon nicht wusste, was er sagen sollte.

"Ich wollte nur hören, wie es dir geht." War eine häufige Antwort auf meine Frage, warum er anrief.
Diese Frage stellte ich aber bloß, weil ich selbst nicht wusste, was ich sagen sollte.

"Hach, du Süße. Ihm werden die Augen ausfallen, wenn er dich sieht", sagte Claire entzückt und ich lachte.
"Dann bin ich wenigstens nicht mehr die einzige Blinde."
Darauf sagte Claire nichts. Sie bemühte sich, meinen Humor zu teilen, doch es fiel ihr schwer.
Ich akzeptierte das.

Claire und ich hatten mir ein Rüschchentop in einem kräftigen Orangeton und einen taillierten Rock in marineblau herausgesucht. Mein Make-Up wollte ich so dezent wie möglich und ich fragte Stella zur Sicherheit, ob Claire sich auch an die Regeln hielt oder über die Stränge schlug.
Wenn es um Mode und Make-Up ging, war sie nicht aufzuhalten.

Um das ganze noch abzurunden, so drückte Claire es aus, hatte sie mir noch einen lockeren Zopf geflochten. Sie wollte noch Blümchen hineinsetzen, aber da hörte der Spaß bei mir auf und ich sträubte mich dagegen.

Insgesamt aber hatten wir wirklich viel Spaß gemeinsam und gerade, als Claire mit Parfüm ankam, da klingelte es schon an der Tür. Meine Schwester wollte unbedingt öffnen.
Danke Namjoon, du rettest mir gerade meine Lunge!

Ich stand auf und lief in den Flur. Ich hörte, wie sich Claire leise mit Namjoon unterhielt, konnte aber nicht verstehen über was. Wehe, sie erzählte irgendeinen Schwachsinn, dann war sie morgen sowas von erledigt.
"Hay Namjoon", sagte ich schüchtern. Schüchtern, das war ich selten. Und eigentlich kannte ich ihn doch nun gut genug, um nicht schüchtern sein zu müssen.
"Hallo Mika", begrüßte mich Namjoon ebenfalls. Seine tiefe Stimme war sanft und glitt als Schauer durch meinen ganzen Körper.

Claire reichte mir meine Schuhe und ich schlüpfte schnell hinein.
"Wann soll ich sie nach Hause bringen?", fragte Namjoon und ich hätte im Erdboden versinken können. Er nahm diese Date-Sache ja ernster als ich ahnen konnte.
"Habt einfach Spaß. Mika entscheidet", sagte Claire bloß und ich freute mich im stillen über diese Antwort.
"Ja dann, lass uns los."

So aufgeregt wie in diesem Moment war ich wahrscheinlich noch nie in meinem Leben und Namjoons Hand in meiner machte diesen Zustand nicht gerade besser.
Ich atmete tief durch und versuchte jede Nervosität von mir abzuschütteln.

Denn dieser Abend konnte nur schön werden.

Bookshelf Conversations || kim namjoon / min yoongiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt