Kuchenflucht

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Bei uns war an diesem Donnerstag die Hölle los. Xena konnte sich nicht von ihrem Handy losreißen und kreischte herum, wenn Claire es ihr abnehmen wollte. Sie meinte, sie hätte etwas wichtiges mit jemandem zu besprechen.
Dieser jemand war wohl ein Kerl namens Wang Kyungmin, Claire vermutete einen dieser kleinen möchtegern Bad Boys. Einer dieser Jungs, die mindestens ein Jahr älter waren als alle anderen in der Klasse, aber auch mindestens drei Jahre mit dem Denken zurück hingen.
Ein Sechtzehnjähriger, der dachte wie ein Dreizehnjähriger. Was daran nun so schlimm sein sollte, konnte ich mir kaum vorstellen. Wie schlimm konnte schon ein Junge mit dem Gehirn eines Dreizehnjährigen sein?

Unser jüngster, Hugo, schrie das gesamte Haus zusammen, da er nicht damit klar kam, dass Mom und sein französischer Dad beide nicht da waren. Es war dieses Kinderschreien, bei dem viel Rotze und Spucke floss. Man hörte das Glucksen seines Speichels, während er heulte und das war eines der ekeligsten Geräusche, die ich mir je anhören musste.
Mit beinahe drei Jahren musste das Leben wirklich schwer sein, wenn man nicht einmal seine eigene Spucke runterschlucken konnte, während man heulte wie ein Schlosshund.

Mit einem Stofftaschentuch wischte ich ihm durch das Gesicht und versuchte bloß nicht mit meiner Hand irgendeine Körperflüssigkeit zu berühren. Claire kümmerte sich während dessen um den leichteren der beiden Fälle.
Doch irgendwann begann es mir richtig zu stinken.

"Claiiiire! Hugo hat in die Windeln gemacht. Schon zum dritten mal. Dieses mal will ich dir nicht beweisen, wie selbstständig ich ihm das Ding wechseln kann, nachdem ich voll in den Inhalt gepackt habe. Lass uns tauschen!", schrie ich durch das gesamte Haus und Hugos Brüllen wurde nur noch lauter und unerträglicher.
Irgendwann würde mein Trommelfell platzen.

"Ist ja gut, Hugo. Mama und Papa kommen gleich zurück. Vielleicht bringen sie dir ja sogar eine Kleinigkeit mit, mh? Du musst nur schön lieb sein", sagte ich beruhigend und tätschelte den Kopf meines Halbgeschwisterchens.
Das Gejammer klang langsam ab und das Baby bebte leise, während es sich beruhigte. Dieser Junge wurde von uns allen viel zu sehr verwöhnt.

"Claire!? Kommst du jetzt? Bitte, ich kann das nicht noch einmal machen!", rief ich ein weiteres mal, doch das war ein Fehler.
Sofort begann das Geheule von neuem und ich versuchte meinen Bruder wieder zu beruhigen.
"Hey, hey, hey, alles ist gut, Hugo. Alles gut."

Die Beschwichtigung endete damit, dass er sich meinen Finger schnappte und in den Mund steckte. Ich sträubte mich vor Ekel, ertrug es aber tapfer, bis Claire mich erlöste und den Stinker zum Windelwechseln mit sich nahm.

In meinem Körper machte sich große Erleichterung breit. Ohne irgendetwas mit meinen Babyspuckefingern zu berühren, suchte ich das Bad auf und wusch mir ausgiebig die Hände.
Im Spiegel zeigte sich mir eine seltsam verschwommene Masse, die ich darstellen sollte. Es hatte für mich keinen Reiz mehr zu wissen, wie ich nun womöglich aussah. Mir reichten dafür Claires Beschwichtigungen zu meinem angeblich immer pickelfreien Gesicht und wie sie von meinem glatten, splissfreien Haar schwärmte, während sie über ihre struppige Mähne redete.

Wir hatten eben alle andere Veranlagungen.

"Mika, warum ist es so laut?", fragte eine verschlafene Stimme.
Oh nein, bitte nicht du auch noch.
Meine siebenjährige Schwester Stella hatte mir gerade noch gefehlt. Aber immerhin war sie das angenehmste Kind dieser verrückten Familie. Und ich meine wirklich verrückt.
Stella schlief am Nachmittag viel, aber das auch nur bloß, weil sie sich Nachts mit Albträumen herumquälen musste.

"Alles gut, Hugo macht nur ein paar Schwierigkeiten und Xena ist wieder zickig. Kannst du noch schlafen?", fragte ich und fühlte, wie das Mädchen meine Hand packte.
"Mh-mh. Schon lange nicht mehr, ich wollte aber nicht nerven", sagte sie und ich lächelte.
"Du nervst nicht. Hey, willst du dich anziehen und wir gehen Kuchen für alle holen?", schlug ich vor.
"Darf ich bezahlen?", fragte sie und ich hörte, dass sie breit grinste.

Ich tat so, als müsste ich darüber noch überlegen.
"Hm, also gut, ist gebongt. Dann muss ich wenigstens nicht eine halbe Stunde nach den richtigen Münzen tasten", antwortete ich und nach einem "Cool", ließ sie meine Hand los und ich hörte ihre nackten Füße auf dem Fliesenboden, während sie trampelnd in ihr Zimmer lief.
Kurz darauf haute sie die Tür zu.

Irgendwie waren hier alle einen Ticken zu temperamentvoll.

Mit Widerwillen erlaubte uns unser Halbgeschwisteroberhaupt Claire, dass Stella und ich uns verdammten Kuchen besorgten.
"Aber du passt gut auf, dass Mika nicht einfach über die Straße läuft, ja?", redete sie Stella ein und ich verdrehte die Augen.
"Und Mika, wag es dich auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden wieder irgendwohin zu verschwinden. Stella ist schlau, aber du bist manchmal unauffindbar."
Manchmal fragte ich mich wirklich, für wie alt sie mich überhaupt hielt, wenn sie sogar meine siebenjährige Schwester dazu beauftragte, auf mich aufzupassen, wie auf einen Hund.

Ich wusste die genaue Schrittanzahl zu dem Bäcker in unserer Nähe. Ich hätte den Weg auch alleine gefunden, aber so liebevoll, wie mich Stella führte, wollte ich sie nicht unterbrechen. Immerhin war sie gerade in dem Alter, in dem man sich nützlich machen wollte. Das konnte ich ihr einfach nicht zerstören.

"Liest du mir heute Abend etwas vor? Das hast du schon lange nicht mehr getan", sagte Stella.
Das hatte ich wirklich schon lange nicht mehr getan. Vielleicht, weil ich ziemlich hakte, wenn ich etwas laut vorlas. Meine Finger mussten erst einmal jeden Buchstaben ertasten und dann musste ich die Worte formen. So schnell wie beim Lesen mit den Augen war ich noch nicht. Man konnte mich vielleicht einen Amateur im Anfangsstadium nennen, aber ich nutzte jede Gelegenheit zu trainieren, schneller zu werden.

"Ich habe gerade kein Buch da, ich müsste erst eins in der Bibliothek ausleihen", gab ich zu bedenken. Stella schnaufte enttäuscht und zog mich über die Straße.
Noch vierzig Schritte und wir hatten die Bäckerei erreicht.
Ich konnte einen kleinen, gelben Punkt verschwommen wahrnehmen. Ja, das war das Schild der Bäckerei.

Wir betraten das kleine Geschäft und hier empfing uns wunderbare Kühle. Die Frau auf der anderen Seite der Backwaren kannte uns natürlich. Wir kamen beinahe jeden Tag, um Brötchen oder Brot zu kaufen.

"Na, ihr beiden Zuckerschnecken. Was darf es denn sein?"
Wir bestellten den üblichen Kuchen, wenn wir mal welchen kauften. Und ich kannte auch den genauen Preis, daran hatte sich seit einem Jahr nichts geändert.
"Es sind leider keine Zimtschnecken mehr da. Tut mir leid, Mika", sagte die Bäckerin und ich machte eine wegwerfende Bewegung.
Schnell rechnete ich im Kopf, wie viel wir ohne die drei Zimtschnecken bezahlen mussten. Den Preis sagte sie sechs Sekunden, nachdem ich ihn ausgerechnet hatte und Stella reichte ihr das Geld.

"Dankeschön", sagten wir im Chor und verbeugten uns.
"Ich habe zu danken, Mädchen."

Als wir wieder hinaustraten, kam uns schon direkt die Hitze entgegen. Jetzt mussten wir aber schnell nach Hause, damit der Kuchen nicht allzu warm und matschig wurde.
"Vorsicht, da kommt ein Mann, Mika", sagte Stella und zog mich ein Stück zu sich.
Beinahe zu spät erkannte ich die Silhouette und die roten Schuhe, die den dunklen Schatten unterbrachen.

"Mh? Warte mal, du bist doch das Mädchen aus der Bibliothek oder? Mika, nicht wahr?", fragte er und ich erkannte Namjoons Stimme. Dunkel und weich.
"Du meinst die Blinde, die euch geholfen hat dieses Hörspiel zu finden? Ja, ja die bin ich wohl", sagte ich und schaute die stark verschwomme Gestalt vor mir an.
Stella zog an meiner Hand. Sie wollte so schnell wie möglich ihren Erdbeerkuchen essen.
"So wollte ich es jetzt nicht ausdrücken, aber ... ja? Danke jedenfalls. Das war echt verblüffend."
Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme und begann ebenfalls zu grinsen.

"Ich weiß. Tut mir leid, wir müssen weiter. Ich muss eine ganze Horde an Kindern mit Kuchen ruhig stellen", sagte ich und ließ mich von Stella mit sich ziehen. "War nett ein weiteres Mal mit dir zu plaudern, Namjoon. Und bestell Yoongi schöne Grüße. Ich hoffe der Faulpelz kommt mit dem Hörspiel besser klar, als mit dem dreihunderteinundfünfzig Seiten Buch!", rief ich noch und dann konzentrierte ich mich wieder voll und ganz auf meine Schritte.

Bookshelf Conversations || kim namjoon / min yoongiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt