Der Erfolg einer planetaren Invasion hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab und entscheidet sich oft in den ersten 36 Stunden. Letztlich handelt es sich allerdings um ein kalkuliertes Risiko, da sich die Situation jederzeit unerwartet ändern kann. Wie heißt es doch so zutreffend in älteren Militärtraktaten: Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt. - "Die Ersten am Boden, die Letzten zurück", von Generalleutnant Benjamin Fallon, New Alba 2715.
THS Vanguard, im niedrigen Orbit über Pacifica, Allied Commonwealth, 28. Mai 2678
Commander Aris studierte die stetig eingehenden Statusmeldungen der Flotte und der Landungsoperationen. Die vergangenen 20 Stunden waren fast perfekt verlaufen. Die erste Welle der Flotte hatte die Commonwealthschiffe im Orbit angegriffen. Die Verteidiger wurden vollkommen überrascht und sahen sich zudem Verbänden mit überlegener Feuerkraft gegenüber. Damit hatte die Hegemonialflotte die Raumüberlegenheit errungen und konnte wichtige Einrichtungen auf dem Planeten gezielt ausschalten.
Währenddessen hatten vorausgeschickte Kommandoeinheiten am Boden erfolgreich mehrere Schlüsseleinrichtungen infiltriert und Teile der Orbitalverteidigung ausgeschaltet; der größte Erfolg war das Herunterfahren des planetaren Neuronetzwerks durch die 5. Commando-Marines.
Nur zwei Stunden nach Beginn der Kampfhandlungen im Orbit hatte die eigentliche Invasion begonnen. Die 3., 5. und 9. Division der Marines, weitere Special Armed Services-Regimenter und die 2. Terran Guard-Division befanden sich nun auf Pacifica, neun weitere Divisionen würden in den nächsten 48 Stunden folgen. Drei Kreuzergeschwader sicherten den Orbit Pacificas, während das Gros der Flotte mit dem gewaltigen Flagschiff Alexander im hohen Orbit sowie in der Umlaufbahn der beiden Monde Pacificas kreuzte, um ankommende Commonwealthschiffe zu stellen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Commonwealth Flottenverbände zusammenziehen würde, um Pacifica zu entsetzen. Die Hauptflottenbasis des Commonwealths in diesem Sektor befand sich im Callisto-System, rund 30 Lichtjahre von Pacifica entfernt. Selbst mit maximaler Geschwindigkeit würden mindestens 8 Tage vergehen, bis sie Pacifica erreichen würden. Und die Frage war, ob sie das überhaupt konnten.
Was niemand auf Pacifica ahnen konnte: Das Commonwealth wurde fast gleichzeitig in acht Systemen attackiert, von denen der Angriff auf Pacifica nicht einmal der massivste war. Die Hauptkampfverbände der Terranischen Hegemonie hatten vielmehr Eden angegriffen, die "Kornkammer" für ein halbes Dutzend Systeme.
Die Planungen für "Operation Avenger" hatten beinahe drei Jahre gedauert und waren ein logistischer Albtraum für die beteiligten Operationsoffiziere gewesen. Die bisherigen Ergebnisse rechtfertigten aber den enormen Aufwand. Tatsächlich waren die Resultate besser als in den meisten Simulationen.
New Haven befand sich bereits in der Hand der Hegemonie, ebenso wie mehrere andere Großstädte, darunter Nueva Santiago, Jamesburg, Seander und Port Carter. Die Kämpfe um Kelso und Landfall waren noch immer im Gange, aber das waren minimale Rückschläge. Wichtiger war, dass die Hegemonialflotte nun ungestört im Orbit agieren konnte. Wer erst einmal die Raumüberlegenheit gewonnen hatte, der gewann früher oder später auch die Kontrolle über den Boden.
Aris trank einen Schluck Kaffee und gestattete sich für einen Moment, die Augen zu schließen. Er war seit über 28 Stunden auf den Beinen, doch die Stimulationstabletten hielten ihn weiterhin wach. Er lächelte bei dem Gedanken, wie überrascht das Commonwealth-Militär von dem plötzlichen Erscheinen eines so zahlreichen und schlagkräftigen Gegners sein musste.
Es waren nun gut 100 Jahre vergangen, seitdem sich die Föderation aus den ehemaligen Kolonien in diesen Raumsektoren zurückziehen musste. Der Schock der Niederlage hatte zu keiner Änderung in der Politik der Föderationsregierung geführt, im Gegenteil. Korruption und Repression hatten eher zugenommen, da nun die Rohstoffe aus den Kolonien ausblieben. Die vereinzelten Aufstände auf der Erde, dem Mars und den benachbarten Systemen, die sich noch unter Kontrolle der Föderation befanden, waren mit äußerster Brutalität niedergeschlagen worden.
Dennoch stand die Föderation auf tönernen Füßen. Die wahren Machthaber waren die Mitglieder der wohlhabendsten und einflussreichsten Familien, die seit Generationen die wichtigsten Posten in der Föderation innehatten, während die abgehaltenen Wahlen nur eine schlecht gewahrte Fassade waren.
Etwa 30 Jahre nach Ende des Kolonialkriegs hatten sich jedoch führende Flottenoffiziere zusammengeschlossen, unterstützt von einigen wenigen politischen Dissidenten, die nicht in Todeslagern verschwunden waren. Sie hatten im Verborgenen und äußerst vorsichtig agiert, bis es ihnen gelang, die drei wichtigsten Systeme in der Föderation in einem militärischen Handstreich unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie etablierten eine neue Regierung mit einer neuen Verfassung und gaben dem neuen Staat den Namen "Terranische Hegemonie". Oberstes Ziel der Hegemonie war die Vereinigung aller von Menschen besiedelten Systeme, das Wohlbefinden der Bürger und deren Schutz. Im Gegenzug wurde Loyalität und Einsatzbereitschaft eingefordert.
Die Föderation brach in einem kurzen Bürgerkrieg zusammen, als 20 Kreuzer über der Erde erschienen und Kommandotruppen auf der Erde gezielt Führungsmitglieder der alten Föderation liquidierten. Die folgenden 50 Jahre waren geprägt von einem gewaltigen Aufbauprogramm im wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Bereich. Terraforming auf der Erde selbst, umfassende Gesundheits- und Sozialprogramme sowie eine Wiederbelebung der Wirtschaft durch ein enormes Konjunkturprogramm - nicht zuletzt finanziert durch beschlagnahmte Vermögen der alten Elite -, hatten zu einer regelrechten Renaissance in den Systemen der alten Föderation geführt.
Nicht vergessen hatte man aber die ehemaligen Kolonien; die sogenannte "Wiedervereinigung" war ein Wunsch vieler führender Hegemoniepolitiker, während die Flotte beweisen wollte, wozu sie nach so langer Vorbereitung fähig war. Da die Kontakte zwischen den ehemaligen Kolonien und der alten Föderation nach dem Unabhängigskeitskrieg praktisch vollständig abgebrochen und die Entfernungen beträchtlich waren, ahnte man im Commonwealth wohl nicht einmal, was auf der Erde im vergangenen halben Jahrhundert geschehen war. Nach langem Zögern hatte dann der "Erste Bürger" Raphael Sanders, der Regierungschef der Hegemonie, dem Oberkommando gestattet, Operation Avenger in die Tat umzusetzen.
Aris gab sich keiner Illusion hin: Die Bewohner des Commonwealth würden die Hegemonie als aggressiven Angreifer betrachten, der ihnen ihre Selbstständigkeit nehmen wollte und Krieg auf ihre friedlichen Welten brachte. Aber Aris kannte die Geschichte der Hegemonie und war fest davon überzeugt, dass sie das Beste war, was der Menschheit geschehen konnte. Die Föderation war korrupt und eine schlecht getarnte Diktatur gewesen, die Hegemonie gestand ihren Bürgern aber recht umfassende Freiheiten und Grundrechte zu, während alle Ressourcen genutzt wurden, um den Wohlstand für das Gemeinwesen zu vermehren.
Aris erwartete nicht, dass man dies auf Pacifica auch so sehen würde. Aber das würde mit der Zeit hoffentlich der Fall sein. Bis dahin würde Aris alles tun, um seine Pflicht zu erfüllen.
Leutnant Sung trat zu Aris und salutierte. Ihre schwarze Flottenuniform war makellos, aber auch sie sah erschöpft aus.
"Sir, die Bodenverbände bei Landfall bitten um zusätzliche Unterstützung. Wie es scheint, führt das Commonwealth weitere Verbände heran und Colonel Burke ist besorgt, dass die Kämpfe verlustreicher als erwartet werden könnten." Aris sah sie skeptisch an, bevor er antwortete. Als Operationschef des 3. Geschwaders der 1. Flotte oblag es ihm, die Bodenoperationen mit der Flotte zu koordinieren.
"Verlustreicher als erwartet? Glaubte Burke etwa, dass alle Kämpfe so reibungslos ablaufen würden wie bei der Einnahme von New Haven?" Aris atmete durch und betrachtete dann die Daten hinsichtlich Landfall. "Aber gut. Nehmen sie Kontakt zur Relentless auf, sie soll gezielt mit Railguns die Bodenoperationen decken; außerdem autorisiere ich den Einsatz von weiteren 8 Banshee-Angriffsjägern. Damit muss Burke auskommen, wir müssen immerhin noch andere Operationen decken."
Sung salutierte und Aris nahm eine weitere Stimulationstablette. Es würde wohl noch ein weiterer langer Tag werden.
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Schöne neue Welten
Science FictionPacifica ist eine paradiesisch anmutende wohlhabende Welt fast 1000 Lichtjahre von der Erde entfernt. Seit Jahrzehnten genießt man die Unabhängigkeit von der korrupt gewordenen Erdföderation und ist zusammen mit anderen ehemaligen Kolonialwelten im...