Schöne neue Welten

Zwischenspiel: Crazy 9

Äquatoriale Umlaufbahn, Pacifica, Terranische Hegemonie (Allied Commonwealth), 22. Juli 2678

Major Isis Baja beobachtete leicht gelangweilt die holografisch dargestellten Sensordaten ihres Banshee-Jagdbombers, während sie den letzten Navpoint ihrer Patrouille passierte. Sie und ihr Flügelmann würden in 20 Minuten auf dem Landungsträger THS Hangzhou landen und den Dienst für heute beenden. 

Wie alle Marine-Trägerschiffe war es nach einer Schlacht benannt, in diesem Fall nach der letzten großen amphibischen Operation während des 3. terranischen Weltkriegs, als im Jahr 2132 acht Divisionen der Atlantischen Allianz dem Westpazifischen Commonwealth den Todesstoß versetzten und damit einen neunjährigen Albtraum beendeten.

Das terranische Marine Corps hing an seinen Traditionen und das aus gutem Grund, konnten doch einzelne Regimenter ihre Ursprünge bis hin zu Marineinfanterieverbänden heute längst untergegangener terranischer Staaten aus dem 22. Jahrhundert zurückverfolgen, wie den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Freistaat Kalifornien, den europäischen konföderierten Staaten oder der sino-russischen Koalition. 

Isis stammte von der Erde. Sie war in den Slums des gewaltigen New Miami Metroplex aufgewachsen, der den Rest Floridas umfasste, der nach den Klimakatastrophen des 22. Jahrhunderts nicht vom Meer überflutet worden war. Das Leben war auch in der Hegemonie nicht einfach, aber doch besser als das was ihre Großmutter gehabt hatte, wenn man den Erzählungen glauben konnte. Die Hegemonie sorgte für ein Minimum an Nahrung und medizinischer Versorgung, aber es gab einfach zu wenig Arbeit und zu wenig erträglichen Wohnraum für die Bevölkerungsmassen.

Mit 18 war Isis zum nächsten Rekrutierungsbüro gegangen. Für 20 Dienstjahre gab es eine anständige Pension und die Möglichkeit, sich in den Kolonien anzusiedeln. Zu ihrer großen Überraschung hatte Isis die Liebe zum Raumflug entdeckt, wofür sie eine überdurchschnittliche Begabung aufwies. Andere Marines wären zu den Bodentruppen gegangen oder hätten den Dienst auf einem Raumschiff vorgezogen. Isis hingegen genoss es, den 80 Tonnen schweren Banshee in wilden Manövern durchs All zu jagen. Das hatte Isis auch ihr Rufzeichen Crazy 9 eingebracht, da sie oft mit 9 g beschleunigte. 

Da die Patrouille beendet war, rief sie nun ihren Flügelmann. "Shining Knight, ich denke, wir können es für heute gut sein lassen." 

Lt. Yu "Shining Knight" Haruna antwortete umgehend. "Wie meine glorreiche Kommandantin wünscht. Wir könnten, Moment, siehst du das auch, Crazy 9?"

Die Sensoren erwachten wie ein alter Christbaum zum Leben und hektische Warnsignale erklangen. Die Rawls-Wright Schiffssysteme zeigten auf der geostationären Transferstation Detonationen von Fusionssprengköpfen und Wrackteile an.

"Ja, sehe ich, Yu. Ich orte aber keine Banditen." Da erreichte die Jäger eine Priorität 1 Nachricht von der Europa, einem Kreuzer im hohen Orbit. 

"Code Red, dies ist keine Übung. Auf der John Glenn gab es einen Terroranschlag, ein Shuttle konnte sich absetzen, scheint nun aber auf Schleichfahrt zu sein. Alle terranischen Einheiten im Umkreis von 30.000 Klicks haben hiermit Anweisung, eine direkte Sensorensuche zu starten und das Shuttle abzufangen. Es ist nach Möglichkeit nicht zu zerstören, sondern kampfunfähig zu machen. Ich wiederhole...."

Yu meldete sich auf der Direktverbindung. "Was meinen sie, Major? Können wir was tun?"

Isis betrachtete bereits die Navigationsdaten und gab einige kurze Simulationen in den Bordrechner ein. Wenn das Shuttle nicht direkt nach Pacifica unterwegs war, konnten sie ohnehin nichts machen. Falls aber doch, gab es nicht unbegrenzte Kursmöglichkeiten. Im Orbit von Pacifica befanden sich terranische Verteidigungsplattformen und terranische Kriegsschiffe. Aber es herrschte auch reichlich ziviler Raumverkehr mit Dutzenden von Shuttles und größeren Frachtern. Ein kleines Shuttle würde nicht zwingend bemerkt werden, wenn es in einem niedrigen Energiemodus flog, über gute Pufferungssysteme verfügte und entsprechend abgeschirmt war. 

"Ich sehe eine Möglichkeit. Yu, wir nehmen eine Kurskorrektur vor und gehen in eine niedrigere Umlaufbahn. Außerdem schalten wir alle Aktivsensoren bis auf IR aus." "Roger, Crazy 9."

Gut zehn Minuten später fragte sich Isis langsam, ob es nicht doch sinnlos war, als die IR-Signatur eines Shuttles 250 Klicks vor ihnen auftauchte. "Yu, da sind sie. Sie treiben auf Position 214.231. Sieht so aus, als wenn sie nur mit Minimalschub die Atmosphäre streifen wollen."

"Keine schlechte Idee, so bemerkt Jamesburg den Eintritt viel zu spät, um noch aktiv zu werden. Was nun? Unsere Railguns zerfetzen das Shuttle und auch unsere Partikelkannone wäre wohl zu viel."

Isis lächelte leicht. "Ich hätte da eine Idee. Wir halten Abstand, bis sie eintauchen. Ich setze mich dann vor sie und aktiviere den Sub-Phasenantrieb. Das wird ihre Elektronik rösten und sie zur Landung zwingen. Die Notfalldüsen sind isoliert, also müssten sie eine heile Bruchlandung hinlegen."

Yu lachte laut auf. "Eine 'heile Bruchlandung' - hört sich nett an. Und was soll ich tun?"

"Du bist der bessere Schütze. Wenn ich es vermassele, holst du sie runter, so oder so."

Yu wurde wieder ernst. "Roger, aber pass auf dich auf. Ich habe keine Lust, mich an einen neuen Vorgesetzten zu gewöhnen."

Zwei Minuten später war es soweit. Isis hatte die Daten eingegeben und aktivierte, nachdem sie die obere Atmosphäre passiert hatten, den Sub-Phasenantrieb. Sofort schoss die Banshee nach vorne und Isis konnte sie nur mühsam kontrollieren. Der Sub-Phasenantrieb war eigentlich für den Flug außerhalb der Atmosphäre eines Planeten gedacht, um die großen Distanzen mit bis zu 30 g überbrücken zu können. 

Isis passierte das Shuttle und riss es in den Sog des Antriebs. Die Sensoren bestätigten den Ausfall der Shuttleelektronik und die Abschaltung des Antriebs, doch die Notschubdüsen würden in einer Höhe unter 10.000 Meter aktiviert werden. Es würde eine unsanfte Landung werden, aber die Besatzung würde es wohl überleben - zumal die Kernkapsel eines Shuttles auch als Rettungsboot ausgelegt und entsprechend abgesichert war.

"Crazy 9 an Jamesburg Milcom. Melde den Absturz des gesuchten Shuttles an der westlichen Goldküste, Koordinaten folgen."

Den Job am Boden müssten andere Marines übernehmen, ihren Teil hatte sie geleistet. Sie würde aber keine Zeit zum entspannen haben - das Motto des Corps lautete nicht umsonst: "Der einzige leichte Tag war gestern."