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Es war die pure Hölle.
Ryo saß zwei Stunden am Bett seiner Schwester, redete ab und zu mit ihr oder beschäftigte sich mit dem Zählen der Gerätschaften, an die sie angeschlossen war.
Müsste er den Nachmittag in einem Wort beschreiben, so wäre es wohl deprimierend. Anstatt Spaß mit Yugi zu haben oder sich daheim zu beschäftigen saß er hier und dachte über sein Leben nach.
Früher würde sein Vater zumindest für die Geburtstage seiner Kinder nach Hause kommen; er würde sich mit ihm an Amanes Bett setzen und ihn trösten und wenn Ryo selbst Geburtstag hatte würden sie zusammen Eis essen gehen und danach Amane besuchen.
Heute aber saß er alleine hier und hatte seinen Vater seit einem Jahr nicht mehr persönlich gesehen. Immer musste er arbeiten.

Er würde es nie zugeben, aber als ein Pfleger ihn bat zu gehen, war er froh. Er wollte nicht länger in dem Raum sitzen und die Schläuche in Amanes zierlichen Armen sehen. Er war müde und wollte einfach nur ins Bett.
Erschöpft setzte er sich wenig später an den Bahnhof und wartete auf seinen Zug. Mehrmals wollte er einfach das Geld für ein Hotelzimmer herauskramen und einfach in der Stadt übernachten, aber letzten Endes gewann das Heimweh.
Er wollte einfach in sein Bett, vielleicht noch eine warme Dusche nehmen und dann unter die warme Decke kuscheln.
Seine Umgebung war fast komplett vergessen, als er eine dünne Jacke aus der Schultasche zog und sie überwarf.
Heute Morgen hatte es noch nach einem relativ angenehmen Herbsttag ausgesehen, vergleichsweise warm und nicht allzu windig, aber jetzt, da es Abend war und langsam dunkel wurde, wurde es auch ordentlich kalt.
Er schreckte auf als die elektrische Stimme der Durchsage ertönte. Das Geräusch von elektronisch verzerrten Stimmen hatte ihm nie gefallen und war eines der wenigen Dinge, welche ihn aus seinen Gedanken reißen konnten.
>>Der Regionalzug nach Osaka über Domino City kommt mit zehn Minuten Verspätung. Wir danken für ihr Verständnis.<<
Seufzend ließ er den Kopf sinken und zog das Handy aus der Hosentasche, um nach möglichen Nachrichten zu sehen.
Erstaunlicherweise hatte er sogar ein paar.

Yugi: Wie geht es Amane?
Schnell beantwortet, wie immer, was sonst?

Dad: Richte Ama alles Gute aus.
Was sollte er schon antworten? Er antwortete überhaupt nicht.

Akefia Touzoku hat dir eine Freundschaftsanfrage geschickt.
Das machte ihn stutzig.
Warum würde Bakuras Bruder so etwas tun? War er vielleicht doch ein ganz netter Kerl?
Zögernd drückte er auf Bestätigen. Woher wusste Akefia überhaupt seinen vollen Namen? Redete Bakura über ihn? Wusste Bakura überhaupt seinen vollen Namen?
Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben als er auf stand und näher ans Bahngleiß trat. Die zehn Minuten waren erstaunlich schnell vergangen und sobald er sich im warmen Zug in den Sitz kuscheln konnte, merkte er seine Müdigkeit erst richtig.
Er war halb eingeschlafen, als sein Handy ihn mit einem leisen Geräusch aus dem Halbschlaf weckte.
Akefia Touzoku hat morgen Geburtstag.

"Also, Süßer, richte deinem Bruder Grüße aus!" Mai kicherte noch einmal während sie Bakura wieder in den Hausflur brachte.
"Natürlich. Bye." Der Weißhaarige wartete nicht einmal mehr auf eine Antwort sondern ging einfach direkt in die Wohnung zurück.
Genervt zog er die Tür zu und ging in die Küche. Während er das Essen einfach mit einer Gabel aus der kleinen Plastikdose aß starrte er lustlos auf sein Handy.
Er erwartete keine Benachrichtigungen, immerhin schrieb er nur mit Malik und manchmal mit Akefia. So war es nichts seltsames, dass er nur an Akefias Geburtstag erinnert wurde.
Gedankenverloren starrte er auf das kleine Gerät in seiner Hand und hantierte nebenbei mit seiner Gabel herum. Vielleicht würde Malik ihm antworten aber zumindest einmal im leben sollte er sich um Schularbeiten und den ganzen Kram kümmern.

Es war nicht so, dass Malik dumm war, aber er war nun mal faul.
Bei Bakura war es ähnlich: Er verstand das Meiste, aber es interessierte ihn einfach nicht. Warum Mathe lernen wenn er es nie brauchen würde? Stattdessen investierte er seine Zeit lieber in praktische Dinge, wie Sport oder eben Parkour. Für Dinge wie Basteln oder Malen hatte er nicht die nötige Geduld, geschweige denn die Motivation.
Gähnend legte er die Gabel weg und stand langsam auf, um sich ins Badezimmer zu begeben.
Fast schon abwesend musterte er sich im Badezimmerspiegel. Seine Augenringe waren noch deutlicher zu sehen als die Tage zuvor und er konnte schwören, einige blaue Flecken an Armen und Hals zu erkennen.
Er hätte sich selbst verfluchen können. Nachdem er einmal notoperiert werden musste hatte er sich eigentlich vorgenommen Schlägereien und sonstigem fernzubleiben - Hatte nur irgendwie nicht so gut geklappt.
Wollte man auf seine Situation genauer eingehen, so fand man letzten Endes einen arbeitenden Teenager, der seinem Bruder die Schulkosten verschwieg und den Rest seiner Zeit mit Herumtreiben verbrachte.

Vorsichtig zog er sich das Shirt über den Kopf und betrachtete die Flecken auf seiner Brust. Es waren nur leichte Verfärbungen die seine helle Haut durchzogen, aber sie zerstörten das Bild seines Körpers noch mehr.
Zwar war dieses schon durch fünf Narben auf der Brust gestört, aber an diese hatte er sich schon lange gewohnt. Sie kamen nicht von einer Schlägerei, aber durch den Wutausbruch eines etwas älteren Mann.

Die Geschichte hinter seinen Narben spielte vor zwei Jahren in der Schule.
Bakura hatte wie immer den Lehrer genervt und irgendwann abgeschalten, aber heute wollte es sich der Geschichtslehrer nicht mehr gefallen lassen.
Herr Akunadin war ein genervter und mürrischer Mann, der großen Wert auf Disziplin legte und seine Schüler gerne einmal herum scheuchte oder sogar nieder machte. So war es nicht ungewöhnlich, dass er die Hand auf Bakuras Pult knallte und ihn somit in die Realität zurückrief.
Doch mehr als einen bissigen Kommentar hatte Akunadin nicht bekommen, weshalb er in blinder Wut den Teenager am Haar packte und ihn mit voller Wucht gegen einen Schrank warf.
Dann erinnerte er sich nur noch daran, wie der Schrank umfiel und ihn unter sich begrub. Seine Erinnerungen endeten mit einem massiven Schmerz in der Brust, als sich die Spitzen eines Kettenanhängers rein bohrten.
Zwar besaß er das Ding noch, immerhin war es ein Erbstück und verdammt wertvoll, aber er würde es nie wieder anziehen.
Damals dachte er, es wäre ein schöner Zusatz für sein Outfit und beachtete die scharfen Spitzen kaum. Der Anhänger hatte die Form einer Pyramide die an den Ecken an einem Ring befestigt war. An diesem Ring waren wiederum fünf Spitzen befestigt, die spitz zuliefen.

Er fuhr die Linien nach, während er sich an die Zeit im Krankenhaus erinnerte.
Wären die Spitzen tiefer gegangen hätten seine Organe lebensgefährlich verletzt werden können, aber auf diese Weise hatte er nur ein paar richtig hässliche Narben.
Eigentlich war er nur im Krankenhaus, da er durch den Schrank eine starke Gehirnerschütterung und ein oder zwei gebrochene Rippen davontrug, die Wunden durch seinen Ring waren das kleinere Übel.

Seufzend fuhr er noch einmal über die Narben, dann zog er den Rest seiner Klamotten aus und drehte das Wasser der Dusche auf.
So schön die Wohnung für den Preis auch wahr, es gab eine Sache die Bakura daran hasste: Es dauerte knappe fünf Minuten bis er warmes Wasser hatte.
Seine Gedanken erfassten etwas, was ihm in letzter Zeit oft durch den Kopf ging - Es würde ein verdammt langes Jahr werden.

Jetlag  (Arbeitstitel)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt