Kummerkasten

19 0 1
                                    


Wie ich diesen Satz hasse. Egal, ob er dem Mund meiner Mom entweicht oder dem von Vincent.  Wenn mir jemand sagt, dass er mit mir reden will, dann zieht sich in mir alles zusammen, da ich weiß, dass es nichts Gutes bedeuten kann. Reden ist immer falsch!

"Gib mir den Teddy und das Messer.", zische ich bedrohlich und gehe auf ihn zu, die Arme schlaff neben meinem Körper hängend. Mein Körper ist viel zu erschöpft, als dass ich die Hand nach ihm ausstrecken könnte, doch mein bedrohlicher Unterton in der Stimme sollte den Rest tun. Die innere Anspannung ist mir jedenfalls anzusehen.

"Erst wenn du es mir erklärst.", entgegnet er und krallt seine Fingernägel sichtbar in den Plüschbären, welcher sein Lächeln trotzdem nicht verliert. Nein, jetzt scheint er mich sogar auszulachen, weil ich erwischt wurde. Die Sturheit meines Mitschülers macht mich rasend.

"Lucien, tust du dir... selber weh?", fragt er zögernd und ich erkenne sofort, dass er lieber ein Nein von mir hören würde. Dieser besorgte Blick, den ich bereits von Vincent kenne, liegt in seinen Augen. Doch er schein insgeheim zu wissen, dass ich ihm diesen Gefallen, seine Theorie zu verneinen, nicht tun kann.

"Gib mir die Sachen zurück! Warum wühlst du eigentlich in meiner Tasche herum?", frage ich ihn aufgebracht und stemme die Hände in die Hüften. Fassade hin oder her, wenn er jetzt schon mein Geheimnis lüftet, dann darf er auch ruhig mal hinter meine Maske blicken. Sein musternder Blick entgeht mir jedoch nicht, macht er mich nur nervöser und vor allem wütender, als ich ohnehin schon bin.

"Das Kartenspiel."
"Ich hab doch gesagt, dass es in der Seitentasche ist."
"Ich habe aus Versehen die falsche Seitentasche geöffnet. Aber beantworte jetzt endlich meine Frage!"

Am Ende seiner Aufforderung wird er laut, stampft vor Zorn mit dem Fuß auf und lässt das Messer fallen, welches direkt auf den Kartenstapel fällt und im Parkettboden stecken bleibt, eine Karte aufspießend. In dem seichten Licht, welches von den beiden Nachttischlampen produziert wird, schimmert die leicht verdreckte Klinge silbern-rot, als hätte sie einen leichten Kupferstich.

Ich bemerke garnicht, dass Daven ein paar Schritte auf mich zugekommen ist und nun dicht vor mir steht, habe ich zu sehr auf die Klinge gestarrt. Sein schnell gehender Atem streicht über meine Wangen, seine besorgt funkelnden Augen bohren sich in meine blauen Azure. In die Enge getrieben beiße ich unbemerkt die Zähne zusammen.

"Lucien.", flüstert er leise, sodass nur ich es verstehen kann. Sein Blick zeigt Trauer, nein, mehr als das. Es ist ein Gefühl, das ich noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen habe. Es ist anders als bei meiner Mom, wenn sie an ihre verkorkste Ehe denkt und sich weinend in das Hochzeitsfoto verkrampft. Es ist anders als bei den Leuten, die ich beobachtet und studiert habe. Es ist keine Trauer, auch keine Sorge, aber was ist es dann? Es ist wieder das, was ich nicht deuten kann!

Zu tief bin ich in Gedanken versunken, versuche diese Emotion zu deuten, als dass ich die Hand an meinem Handtuch bemerke, welches noch immer um meine Hüfte geschlungen ist.  Erst als ich die entgleisten Gesichtszüge und den ungläubigen Blick Davens, welcher auf meine Hüfte fixiert ist, sehe, kann ich mir denken, was passiert ist. Das Handtuch hat meinen Körper verlassen, schlängelt sich wie eine Schlange auf dem Boden herum. Doch mir ist es egal, dass ich nackt vor einem Schwulen stehe. Und die Tatsache, dass ich nackt bin, scheint auch Daven nicht weiter zu beachten. Viel zu sehr ist er auf meine vernarbte Haut fixiert, auf meine Hüfte, die weiße, rote und aufgekratzte Narben aufweist, auch die zwei frischen Wunden, die mit einer Blutkruste überzogen sind.

"Warum...", fragt Daven, bekommt aber kein einziges Wort mehr heraus. Zu geschockt ist er vom Anblick meiner Haut.

Ich realisiere die Situation schnell. Jemand hat es bemerkt. Jemand hat bemerkt, dass ich mich geritzt habe. Und dann ausgerechnet dieser Evans! Ich habe keine Zeit, um mir weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, schnappe mir schnell mein Handtuch und reiße meinem bewegungslosen Klassenkameraden den Teddy aus der Hand, was ihn aus seiner Starre löst.

Vitae TeadetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt