Fehldiagnose

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"Eine Fehldiagnose?!"

Ich glaube mich tritt ein Pferd. Wie kann er so etwas sagen? Und dann auch noch mit so einer Unschuldsmiene?

Als ich gestern Abend total verwirrt nach Hause gegangen bin, mir geistesabwesend die Klamotten vom Leib gerissen und mich wie in Trance in mein Bett gelegt habe, da hatte ich das dringende Bedürfnis zu reden. Und zwar mit jemandem, der mir zuhörte, der mich zumindest ein bisschen verstand und der mir vielleicht in Bezug auf Daven helfen konnte. Diesen Kuss, wenn man ihn so nennen kann, konnte ich einfach nicht vergessen. Im Gegenteil! Er wiederholte sich in meinem Kopf, immer und immer wieder. Ich spürte diesen leichten Druck auf meinen Lippen und sah sein Gesicht vor mir, wie er mich amüsiert musterte.
Ich bin wahnsinnig geworden!
So beschloss ich, Vincent eine dringende Notfall-SMS zu schreiben, in der stand, dass ich ihn unbedingt sprechen müsste und morgen vorbei käme. Das habe ich dann auch getan.

Nach der Schule, in der Daven und ich so taten, als wäre nichts gewesen, ging ich schnurstracks in die Stadt und meldete mich bei Vincents Sekretärin an, die, so wie immer, viel lieber mit ihrem Telefon beschäftigt war als mit den Patienten. Sie schickte mich mit einer Handbewegung nach oben und signalisierte mir, dass Vincent schon auf mich warten würde.

Der nächste Schritt war schwieriger. Ich konnte ihm schlecht auf die Nase binden, dass Daven, so wie ich, schwul war oder dass er mich geküsst hat. Egal, ob es nun an dieser Herausforderung lag oder nicht, für mich blieb es ein Kuss und den konnte man nicht einfach so abschieben. Ich musste eingestehen, dass ich geküsst wurde und mich nicht mal dagegen gewehrt habe.

Vincent war alles andere als begeistert, als ich mich auf den Stuhl gesetzt und einfach nur auf die Tischplatte gestarrt habe. Ich war noch viel zu aufgewühlt und unvorbereitet auf dieses Gespräch. Ich dachte, mir würde auf dem Weg hier her etwas einfallen, oder vielleicht im Wartezimmer, aber nein, mein Kopf blieb leer. Ich wusste einfach nicht wie ich meine Situation anders beschreiben sollte. Was kann man denn schon mit einem Kuss des schwulen, besten Freundes vergleichen? Ja ich gebe es zu, dass ich ausgerechnet von Daven geküsst werden musste, lässt mich nicht locker. Daven steht auf Jungs, so viel steht fest. Ich weiß ja nicht, welche Art von Junge sein Typ ist, aber dass er mich geküsst hat zeigt mir, dass er keine Hemmungen hat, was das abknutschen von Freunden betrifft. Vielleicht passe ich ja auch noch in sein Beuteschema.

Vincent zwang mich dann nach zehn Minuten des Schweigens, mit der Wahrheit herauszurücken und, wenn ich es nicht täte, würde er Daven anrufen. Ich weiß nicht warum mein Therapeut Davens Nummer hat, meine Gedanken reimten sich jedenfalls ihren unmöglichsten Teil dazu selbst zusammen. Ich musste also wohl oder übel mit der Sprache herausrücken.

Klar, ich druckste ein bisschen herum, erwähnte aber dann doch meinen ersten Kuss. Ich ließ aber aus, wer ihn mir stahl. Während unseres Gesprächs habe ich mich wohl oder übel verplappert, als ich sagte, dass er mich nicht einmal gefragt hat, ob er mich küssen dürfte. Und obwohl Vincents Gesichtsausdruck göttlich mit anzusehen war, wurde mir tief in meinem Inneren schlecht. Die Scham saß noch zu tieft. Und als Vincent dann auch noch fragte, ob Daven derjenige gewesen sei, der mich geküsst hat, da wurde ich wirklich ein bisschen rot und es verschlug mir die Sprache. Ich wusste nicht, wie Vincent ausgerechnet auf den Evans kam und so fragte ich mich, ob es irgendwo auf meiner Stirn geschrieben stand. Doch mein Psychologe meinte, dass er bemerkt hat, dass ich nur bei dem Evans so komisch sei. Ich würde viel mehr Emotionen zeigen, wenn es um meinen ersten, besten Freund geht. Und so wurde ich ertappt.

Die Zeit des Schweigens war lang. Ich schwieg, weil ich dieses peinliche Thema nicht weiter ansprechen wollte. Stattdessen wollte ich viel lieber in das nächste Mäuseloch kriechen und Vincent wusste anscheinend nicht, was er dazu sagen sollte. Für ihn war klar, dass ich Zeit bräuchte, und für ihn war auch klar, dass etwas nicht stimmte.
Und zwar mit seiner Diagnose.

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