Begebenheit (Teil 2)

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"Dad? Wer ist diese Frau?"

Es ist ein Flüstern, nein, mehr als das. Es müsste eigentlich kaum zu hören sein. Es fühlt sich an, als hätte ich diese Worte nur gedacht, vielleicht mit den Lippen geformt, aber so, wie mich Daven geschockt ansieht, muss ich es doch lauter gesagt haben als beabsichtigt. Meine Stimme versagt auch sofort jeglichen Dienst.

Ich kann im Augenwinkel erkennen, wie Mom sich verkrampft, ihre Lippen fest aufeinander presst und den Griff um mein Handgelenk lockert. Mein Vater blickt teils beschämt, teils erfreut zur Seite und lockert seine Haltung, da er sich im Streit mit Mom verkrampft zu haben schien. Daven mustert mich hingegen geschockt und besorgt... größtenteils aber besorgt. Er versucht die Überraschung, dass ich diesen Mann vor uns plötzlich Dad nenne, zu verbergen, hält lieber den Atem an und festigt den Griff um meine Schultern. Er hat mich nicht losgelassen. Ich will auch nicht, dass er mich loslässt. Ich habe viel zu große Angst, dass ich dann einfach gegen die nächste Wand falle, und dann qualvoll vor meinen Eltern, Daven und der Fremden verrecke. Auch wenn die Vorstellung total surreal klingt, so ziehe ich sie dieser erdrückenden Stille gerade vor.

Ich mustere den Mann vor mir. Erst jetzt habe ich das Gefühl, ihn richtig anzusehen. Er hat sich kaum verändert, mein Dad, nein, ich sollte ihn eher meinen Erzeuger nennen, immerhin ist er nie ein richtiger Vater für mich gewesen.

Es ist so viel Zeit vergangen, aber dennoch sieht er noch fast genauso aus wie damals, als er noch mit Flaschen um sich warf und seine Fäuste sprechen ließ. Er ist immer noch so gutaussehend und attraktiv wie früher, hat anscheinend noch mehr Sport getrieben als damals schon. Seine schwarzen Haare sind nur ein klein wenig länger, sogar etwas grau geworden und seine saphirblauen Augen strahlen noch mehr als früher. Sie sind klarer, nicht mehr so leer und desinteressiert wie sonst. Auch die Wut ist aus ihnen verschwunden und leichter Freude gewichen, die sich in seinen Augen zeigt. Sie strahlen mich förmlich an.

"So, jetzt hast du dieser Allison Lucien vorgestellt, dann könnt ihr ja wieder gehen", zischt Mom und stellt sich schützend vor Daven und mich. Als würde er gleich auf uns losspringen und uns bei lebendigem Leib verspeisen. Aber etwas an ihrer Aussage passt nicht, passt ganz und gar nicht. Wieder gehen? Ist Dad etwa ausgezogen? Zu dieser Allison? Wann? Wieso weiß ich nichts davon?

Unser Gegenüber schüttelt nur fassungslos den Kopf und zieht die Frau näher zu sich.

"Egoistisch wie eh und je, Marion! Kann ich nicht mal meinem einzigen Sohn meine Freundin vorstellen?"

"Hast du gerade und jetzt pack dein neues Püppchen ins Auto und verschwinde. Lucien und Daven müssen noch Hausaufgaben machen!", keift sie und sieht mich dabei vielsagend an. Ich verstehe sie, sie will, dass ich mich vom Acker mache und sie allein lasse. Sie will nicht, dass ich die folgende Diskussion miterlebe. Sie will mich schützen! Das kann ich in ihren Augen sehen. Und diese Aufforderung, die sie mir erteilt hat, duldet keine Widerworte.

Daven nimmt seine Hände von meinen Schultern und ergreift schnell meinen Unterarm, zieht leicht an ihm und will mir deutlich machen, dass ich ihn lieber nach oben begleiten sollte. Doch ich bin wie erstarrt. Ihn hier zu sehen, vor mir und Mom, diskutierend... weckt so viele alte Erinnerungen. Ich kann mich einfach nicht rühren, meine Beine verweigern jede Bewegung.

"Daven? Ich glaube wir kennen uns noch nicht, das ist Allison und ich bin...", fängt er an und streckt die Hand nach Daven aus, doch ich schlage sie reflexartig wieder weg und umklammere erschrocken Davens Hand.

"Du wagst es nicht, ihn anzufassen!", fauche ich und stelle mich vor Daven. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie habe ich das Gefühl, ihn vor meinem Vater schützen zu müssen. So wie ich es mir damals immer gewünscht habe.

Vitae TeadetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt