"Und hier musst du dann die zwei abziehen, einigermaßen verstanden?"Ich nicke und mein Bleistift kratzt über das karierte Papier auf dem Boden, als ich Davens Anweisungen befolge. Das ist jetzt schon das zehnte Blatt und allmählich kommen mir die Zahlen und Buchstaben zu den Ohren heraus. Aber was soll ich machen? Ich gehe nicht mehr zur Schule und muss den ganzen Stoff nacharbeiten, wenn ich keine Ehrenrunde drehen will. Dass Daven mir alles beibringt und sich immer zwei Stunden vor dem Abendessen hinsetzt, um mir alles haargenau zu erklären, finde ich zwar nett und ich bin ihm auch wirklich dankbar dafür, aber ich könnte es ihm nie sagen.
Ich könnte ihm nie sagen, dass ich über seine Hilfe mehr als nur froh bin, denn dann würde ich mir eingestehen, dass ich auf ihn angewiesen bin. Und ich will auf niemanden angewiesen sein. Ich will von niemandem abhängig sein müssen, denn dann steigt die Gefahr, irgendwann verletzt zu werden. Und dieses Gefühl ist schlimmer als alles, was mir bisher widerfahren ist. Immerhin weiß ich ja, Dank meines Vaters und meiner Mutter, genau, wie es sich anfühlt, plötzlich einfach sitzengelassen zu werden. Ich will keine seelischen Schmerzen mehr erleiden.
Es klopft an der Tür und Daven antwortet murmelnd, während er seine Mathematiksachen wieder in den Rucksack packt. Der Kopf, der in der Tür erscheint, gehört eindeutig zu Joel, welcher erst seinen Bruder und dann mich mit seinen grün-braunen Augen mustert.
"Seid ihr fertig mit den Hausaufgaben?", fragt er und betritt das Zimmer.
Ich rapple mich auf, suche meine Blätter zusammen und lege sie zu meinen anderen Schulsachen, die Vincent gestern Abend noch vorbeigebracht hat. Nun tummeln sich schon dutzende Zettel auf einem Haufen und ich weiß nicht mehr, welches Blatt zu welchem Fach gehört. Damit werde ich mich wohl auseinandersetzen müssen, wenn ich mehr Zeit und Motivation habe.
"Ja, gerade fertig.", antwortet Daven und lässt seine Tasche mit einem lauten Poltern auf den Boden fallen.
"Gut, Mutter ruft euch zum Abendessen."
"Was gibt es denn?"
"Keine Ahnung, ich glaube ich habe Nudeln oder Reis gesehen.", antwortet Joel, steuert wieder die Zimmertür an und wuschelt mir beim Vorbeigehen durch die Haare, ehe er das Zimmer endgültig verlässt und ich und Daven zurückbleiben.
"Kommst du mit runter?", fragt mich der junge Evans, scheint jedoch nicht auf eine Antwort von mir zu warten, denn er zieht mich schon an meinem Ärmel aus dem Zimmer, seinem Bruder hinterher.
In der Küche tischt Frau Evans bereits das Essen auf und Herr Evans liest ausgiebig in seiner Zeitung, um sich, so wie ich ihn kennengelernt habe, über den Wirtschaftsmarkt zu informieren. Als Daven mit mir zusammen den Raum betritt und wir auf den Tisch zugehen, sieht mich Davens Mutter sofort besorgt an und starrt heimlich auf meine Wange, an der ein dickes Pflaster klebt. Als der Hausherr aber seine Frau streng ansieht und ihr mit den Augen zu sagen scheint, dass sie mich am besten nicht wieder darauf ansprechen sollte, lächelt sie mir schnell zu und verschwindet wieder an den Herd, um die restlichen Töpfe zu holen. Wie gesagt, sie versuchen die Blicke zu vertuschen, doch mir sind sie nicht entgangen, habe sie auf mir gespürt wie Dolche, die sich in meine Haut bohren und versuchen, mein Herz zu erreichen. Ich hasse Mitleid. Ich hasse es so sehr, dass mich plötzlich alle bemuttern und die Aufmerksamkeit auf mir liegt. Ich habe immer Angst, mich zu verplappern oder mich falsch zu verhalten. Ich habe dann immer Angst, dass ich anders reagiere, als sie es sich erwünscht haben und dass sie mich dann genauso ablehnen wie meine Eltern.
Daven hat noch am gestrigen Abend seine Eltern über den kleinen Zwischenfall bei meiner Mutter informiert, hat zwar den wahren Grund der Ohrfeige verheimlicht, aber ihnen gesagt, dass ich erst einmal meine Ruhe bräuchte und das Erlebte verarbeiten müsste, wobei er wahrscheinlich sogar Recht hat. Daraufhin haben mich seine Eltern auch nicht mehr auf die Verletzungen angesprochen, sein Bruder Joel, der anscheinend Medizin studiert, hat sich die Verletzung zwar nochmal angesehen und mir versichert, dass nichts gebrochen sei, sagt aber nichts weiter dazu. Auch er schwieg. Sie verschwiegen alle ihre Gedanken, die eh nur pures Mitleid innehaben.
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Vitae Teadet
Teen FictionMein Name ist Lucien Carr, bin 17 Jahre alt und besuche ein Gymnasium. Ich lebe ein mehr oder weniger normales und einsames Leben mit meinen Eltern. Ich habe keine Freunde und hatte auch nie welche. Wieso? Weil sie für mich so etwas wie Zeitverschwe...