Es dauerte eine Weile, bis ich die Worte realisieren konnte, die mir dieser Typ eiskalt ins Gesicht geschleudert hat. Freund? Verlobter? Mein Gehirn schaltete sich bei diesen Begriffen kurzfristig aus, versuchte einen Zusammenhang zu finden, stellte aber schnell auf Arbeitsverweigerung und ließ mich mit diesem komischen Kerl komplett alleine. Natürlich wusste ich mir nicht zu helfen, natürlich wusste ich nicht was ich darauf antworten sollte. Ich meine, was antwortet man auf so etwas? Und vor allem, was macht man mit so jemanden? Schickt man ihn nach Hause oder empfängt man ihn wie einen lang vermissten Bekannten? Immerhin kenne ich ihn nicht, sehe ich ihn zum ersten Mal. Aber er kannte Daven. Also ließ ich ihn herein.„Soso, du bist also Lucien?", strahlt er mir entgegen und wirft seinen dicken Mantel über die Stuhllehne, ehe er sich auf ihm niederlässt und mich beobachtet, wie ich Wasser aufsetze, „Und du bist mit Dave befreundet?"
Ich nicke und wende mich von ihm ab. Natürlich tue ich nur so beschäftigt, in Wirklichkeit will ich diesem Jungen mit dem Namen Cameron einfach nicht ins Gesicht sehen. Ich weiß selbst nicht wieso. Vielleicht, weil mich seine Worte so aus dem Konzept gebracht haben und ich nicht will, dass er mein Mienenspiel mit ansehen kann. Ich hasse es, wenn man mich durchschaut, was jetzt wahrscheinlich das einfachste auf der Welt ist, bei meinem labilen Zustand. Es ist mir bei Vincent schon peinlich genug, da brauche ich keinen Wildfremden, der in mir wie in einem offenen Buch lesen kann. Aber wenn ich ehrlich sein soll, ist das nicht der Grund, weshalb ich ihn nicht ansehen will. Es ist viel mehr, wie ich meinen eigenen Gedanken nachhänge und nicht abgelenkt werden möchte.
Ich dachte eigentlich, ich könnte Daven vertrauen. Er weiß seit gestern alles von mir, von meinen Problemen zu Hause, von meinen Frustbewältigungsmethoden und von den Auswirkungen auf meine Psyche, die mich einschränken. Verdammt, ich habe ihm die Geschichte meines Teddybären erzählt, die nicht mal mein Psychologe kennt! Ich habe ihm gestern alles anvertraut, was mir wichtig ist. Ich dachte eigentlich, er wüsste nun genauso viel über mich wie ich über ihn. Aber ich muss mir eingestehen, dass ich nichts über ihn weiß. Gar nichts. Er ist wie ein Fremder für mich. Und ich habe das nie bemerkt.
Ich weiß, dass seine Familie ziemlich reich ist, dass er einen älteren Bruder hat, der Medizin studiert, dass er schwul ist und dass er sich ein ruhiges Leben abseits vom Pressetrubel wünscht. Aber sonst weiß ich nichts. Ich weiß nicht mal seinen Geburtstag oder seine Lieblingsfarbe, nicht, wo er gewohnt hat, was seine Hobbys sind, ob er mal ein Haustier hatte und auch nichts von einem... Verlobten, der ihn heute anscheinend besuchen wollte.
Ich muss zugeben, das hat mir einen ziemlichen Schlag versetzt. Ich habe ihm so sehr vertraut und dann enthält er mir eine so wichtige Information? Ich bin schon ein wenig enttäuscht, das gebe ich zu. Und ich bin wütend. Wütend darüber, dass er es nicht für nötig hält, sich mir zu öffnen. Von mir immer Antworten verlangen, aber mir nie eine geben.
Wenn ich so recht darüber nachdenke, hat er mir damals, als ich ihn fragte, was er bei dem Kuss empfunden hat, auch nicht geantwortet. Da hat er mich auch im Dunkeln stehen gelassen. Da ist er auch einfach gegangen. Hat er mir eigentlich jemals etwas über sich erzählt? Freiwillig? Ohne dass ich nachhaken musste?
„Hmm, aber ich finde es schon komisch...", murmelt plötzlich Cameron und seufzt laut, womit er mich aus meinen Gedanken reißt, „Dave hat mir gar nichts von dir erzählt. Und warum bist du eigentlich nicht in der Schule? Du bist doch bestimmt noch Schüler, oder?"
Wieder nicke ich, habe jedoch nicht vor, auf seine andere Frage zu antworten. Ja, warum bin ich eigentlich nicht in der Schule? Weil Vincent es mir verboten hat? Darüber kann ich mich doch eigentlich hinwegsetzen, ich muss ihm doch nicht gehorchen. Er ist nicht mein Vater.
Vielleicht, weil Daven mich lieber bei sich Zuhause als in der Schule sehen will, weil er sich Sorgen macht? Das ist ja wohl auch fraglich, immerhin scheint er es mit der Ehrlichkeit nicht so zu meinen. Ich meine, wer küsst denn schon einen Jungen, wenn er doch verlobt ist? Verlobt... das Wort klingt so komisch... so surreal. Es passt nicht hier hin.
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Vitae Teadet
Teen FictionMein Name ist Lucien Carr, bin 17 Jahre alt und besuche ein Gymnasium. Ich lebe ein mehr oder weniger normales und einsames Leben mit meinen Eltern. Ich habe keine Freunde und hatte auch nie welche. Wieso? Weil sie für mich so etwas wie Zeitverschwe...