Emotionen

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Das Erste, was ich am nächsten Morgen mit verschlafenen Augen erkennen kann, ist Daven, in meinem Bett, direkt neben mir, die Arme noch immer um mich gelegt. Und ich ganz nah an seiner Brust. Anscheinend wollte er mich nicht loslassen und ist irgendwann auch eingeschlafen. Vielleicht war das gestern doch ein bisschen viel für ihn. Naja, eigentlich war es sehr viel für uns beide, unsere Freundschaft hat sich dadurch wahrscheinlich extem verändert. Ich hoffe, dass sie nicht zum negativen übergegangen ist.

Gestern, da habe ich ihm erzählt, dass ich mich ritze. Was heißt erzählt, er hat es herausgefunden und ich war ihm eine Antwort schuldig, das kann man nicht unbedingt erzählen nennen. Jetzt wird er mich, hoffentlich, fürs erste in Ruhe lassen. Er hat erstmal genug in meinem Leben herum gewühlt. Er weiß die Sache mit meinem Großvater, mit meinem Vater, die Sache mit Vincent und mit dem Ritzen. Er kennt mich bald besser, als meine eigene Mom.

Der gestrige Tag hat seinen Tribut gefordert, mein leerer Magen schmertzt und meine Gliedmaßen sind so steif und schwer, sodass ich mich kaum bewegen kann. Ich weiß nicht, ob es von meiner Schlafposition oder von der gestrigen Aufregung kommt. Fest steht jedoch, dass ich mich in diesem Zustand nicht aus Davens Klammergriff befreien kann. Aber muss ich das überhaupt?

Sein Herzschlag ist beruhigend, sein Atem streift immer wieder durch meine Haare und seine Körperwärme zwingt mich einfach dazu, locker und entspannt zu bleiben. Alles in allem ist diese gesamte Situation neu, aber auch das Gemütlchste, was ich je getan habe. Nicht, dass ich jetzt sagen könnte, dass es sich besser anfühlt als die Klinge, das kann man einfach nicht vergleichen, aber in diesem Moment akzeptiere ich diese Nähe. Ich akzeptiere es, dass mich mein erster, richtiger, schwuler Freund im Arm hält und mit mir das Bett teilt.

Verschlafen versuche ich auf mein Handy zu gucken und muss feststellen, dass es noch zu früh ist um aufzustehen. Bis zum Frühstück dauert es noch mehr als zwei Stunden, also kann ich noch liegen bleiben und mir weiter den Kopf zerbrechen. Zum Beispiel über diese Situation. Wie soll es jetzt weiter gehen? Ich will nicht, dass er mir jetzt auf ewig hinterher rennt, um aufzupassen, dass ich mich nicht mehr selbst verletze. Ich akzeptiere die Nähe im Moment, aber da meine Stimmung ständig schwankt, werde ich vielleicht in der nächsten Minute Abstand wollen. Und dem muss sich dann Daven fügen, ob er will oder nicht. Aber wie mache ich ihm das klar, ohne ihn zu verletzen? Ich weiß ja nicht, wie man in so einer Situation reagiert. Am besten wäre es, wenn ich es ihm in Ruhe erkläre. Er muss mit meinem Stimmungswechsel leben, wenn er die Freundschaft noch immer will. Und er muss auf Abstand gehen, wenn es mir zu viel wird.

In diesem Moment fällt mir mein Traum wieder ein. Der Traum in dem ich Daven tötete. Sein angstverzerrtes Gesicht, sein Blut, das an meinen Händen klebte. Wäre ich zu so etwas in der Lage, wenn er mir keinen Freiraum lässt?

"Worüber zerbrichst du dir den Kopf?"

Die Stimme ist ein wenig rau und verschlafen, dennoch sanft und leise. Sie stammt eindeutig von Daven, welcher mich mit ebenso verschlafenen Augen ansieht und mich leicht anlächelt. Die Müdigkeit ist ihm anzusehen.

"Morgen.", nuschle ich und strecke meine Beine, bis sie leise knacken.
"Morgen. Also, worüber machst du dir Gedanken?"
"Über dies und das.", antworte ich ausweichend und bemerke wie Daven sich leicht umdreht und auf den Wecker sieht.

"Und was ist dies und das?", fragt er, als er sich wieder mir widmet und sich ein bisschen mehr an mich kuschelt. Er scheint diese Nähe mehr als nur zu genießen.
"Vor allem du."

Dieser Satz lässt ihn eindeutig hellhörig werden, denn sofort sieht er mir wieder in die Augen, reißt seine sogar ein bisschen auf.
"Wegen gestern oder wegen dieser Situation?", fragt er und ich kann nur Nicken. Wegen beidem.

Vitae TeadetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt