Nathanaels Sicht
»Nat!« Ich hörte ihn, auch wenn er in einem anderen Zimmer war und gerade zu mir kam. Nur er hatte diese besondere Art und Weise über eine Fläche zu gehen, nur seine Schritte klangen so.
»Was ist denn?«, fragte ich ein wenig genervt und drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der seine Stimme gekommen war.
»Hier ist die Milch. Ach ja, und ich habe dir noch Schokolade mitgebracht, habe ich vorhin vergessen dir zu geben«, sagte mein Bruder Kai und ich hörte wie er etwas auf den Wohnzimmertisch fallen ließ.
»Danke...« Ich seufzte und füllte die Tasse mit der warmen Milch, die andere goss ich in einen Termobecher, dann füllte ich noch Kakaopulver dazu.
»Du gehst meinem Nachbarn aber ganz schön auf die Nerven. Du hättest nicht extra wegen der Milch klingeln müssen, zumal der Junge alles andere als erfreut darüber klang, dass man ihn aufgeweckt hat.«
»Nun, bevor du dich draußen verirrst...«
»Wenn ich den Weg zum Supermarkt kennen würde, könnte ich auch selbst gehen und einfach einen der Angestellten fragen, wo sich etwas befindet.« Mein Bruder lachte.
»Du würdest niemals jemanden Fremden nach Hilfe fragen.« Ich schnaubte und reichte meinem Bruder den Termobecher, den er dankend entgegennahm.
»Morgen kann ich nicht vorbei kommen. Ich muss das Wochenende über weg, und komme erst Dienstag wieder.«
»Ich komme sehr gut allein zu recht.« Ich setzte mich aufs Sofa und mein Bruder seufzte.
»Du lebst zum ersten Mal allein. Ich bin mir immer noch nicht sicher ob es eine gute Idee von dir war, auszuziehen.« Ich stöhnte genervt auf, dann stellte ich die Tasse auf den Tisch. Er müsste eigentlich den Wunsch verstehen, dass ich Dinge auch allein tun wollte und nicht immer nur auf die Hilfe anderer angewiesen sein wollte. Ich war immerhin kein kleines Kind mehr.
»Ich gehe jetzt wieder, danke für den Kakao. Ich hoffe du kommst ohne mich klar? Mach bitte keine Dummheiten, und ruf mich an wenn etwas ist.« Wie immer war mein Bruder in vollkommen sinnloser Sorge darum dass mir irgendetwas passieren könnte.
»Ich bin alt genug um auf mich selbst aufzupassen«, murrte ich.
»Ich mache mir nur Sorgen um meinen kleinen, wehrlosen Bruder«, sagte Kai dann und wuschelte mir durch die Haare. Er roch wieder etwas anders, irgendein Parfüm klebte an ihm, auch wenn es nur die schwachen Reste davon waren. Auch Reste klebten meist noch Tage lang an einem, was vielen nur nicht bewusst war und die meisten wahrscheinlich nicht einmal bemerken würden.
»Ich bin 23 und nicht mehr klein«, antwortete ich und wusste genau, dass mein Bruder jetzt wahrscheinlich ein breites Grinsen auf den Lippen hatte.
»Aber immer noch wehrlos. Ich bin dann mal weg.« Seine Schritte entfernten sich und ich hörte die Wohnungstür ins Schloss fallen. Endlich allein, ohne jemanden der ständig ein Auge auf mich hatte. Ich war blind, aber deswegen musste man mich noch lange nicht umsorgen, als wäre ich vier Jahre alt. Kaum zu glauben das mein Bruder drei Jahre jünger war, er verhielt sich als wäre er meine Mutter.
Ich blieb noch eine Weile sitzen, dann schaltete ich den Fernseher ein, wo natürlich nichts sinnvolles lief, also legte ich eine DVD ein, schaltet auf die Version für Blinde, legte mich hin und schloss die Augen...
Nach einer Stunde meldete sich mein Magen zu Wort und ich begab mich in die Küche wo ich überlegte, was ich heute Essen könnte. Instant Nudeln? Nein, aß ich sowieso viel zu oft. Tiefkühlpizza? Nein, die gab es auch jede Woche zweimal...
Vielleicht sollte ich einfach anfangen mich gesund zu ernähren, aber das wäre mir zu umständlich.
Letztendlich nahm ich doch die Tiefkühlpizza, dann machte ich mir eine Audiodatei an Dingen, die ich mal wieder brauchte und versuchte nicht daran zu denken was mir am Montag bevor stand.
~
Montag Morgen war ich unglaublich nervös, als ich meine Jacke anzog, meinen Blindenstock nahm und einmal tief ein und aus atmete.
Ich musste in die Stadt, hatte aber absolut keine Ahnung wo sich die Bushaltestelle befand. Mein Bruder hatte mir gesagt sie wäre beinahe direkt vor der Haustür, aber trotzdem war es schwer für mich, mich in einer fremden Umgebung zurecht zu finden.Seufzend rief ich meinen Bruder an, allerdings ging er auch nach mehrmaligen probieren nicht ran. So viel zum Thema "Ruf an wenn du etwas brauchst". Sicher...
Mit klopfenden Herzen öffnete ich die Wohnungstür, schloss sie hinter mir ab und zog meine Schuhe an. Ich hörte wie die Tür gegenüber aufging - und dann war es still, was mich unglaublich nervös machte. Normalerweise verursachten alle Menschen Geräusche, aber ich hörte nicht einmal ein leises atmen.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte eine Stimme dann und ich atmete noch einmal aus. Seine Stimme klang ruhig und angenehm, sie war nicht laut, aber dennoch gut verständlich. Er war jung, aber kein Kind mehr.
Am liebsten würde ich einfach sagen, dass ich keine Hilfe brauchte, aber die Wahrheit war leider anders.
»Ich muss zur Bushaltestelle... ich kenne mich hier noch nicht aus, daher weiß ich nicht wie ich da hinkomme.« Ich hob meinen Kopf und öffnete die Augen. Wie immer erwartete ich dass ein Moment peinliches Schweigen folgen würde, so wie immer wenn Leute feststellten dass ich blind war, aber das blieb diesmal aus. Seine Antwort kam sofort, als hätte er es gar nicht bemerkt.
»Da muss ich auch hin. Wo müssen Sie aussteigen?« Ich nannte ihm die Bushaltestelle und legte meine Hand an das Geländer.
»Gut, ich muss zwei Stationen vorher aussteigen.«
Er ging neben mir die Treppe nach unten, dann berührte er mich ganz leicht am Arm und sagte wo wir lang gingen. Rechts, eine kleine Treppe nach oben, ein Stück nach links. Der Bus kam und ich ließ mich auf einen der stinkenden Sitze fallen, während er neben mir Platz nahm. Er sagte die ganze Zeit über kein Wort, aber kurz bevor er ausstieg sagte er mir noch, wie ich wieder zurück kam, bei welcher Haltestelle ich aussteigen musste und zu welchen Zeiten der Bus fuhr. Ich bedankte mich, dann stieg er auch schon aus.
Ganz so schlecht war es doch nicht mal jemanden um Hilfe zu fragen, auch wenn es immer noch unangenehm war.
Dieses Kapitel ist mal aus Nathanaels Sicht geschrieben, allerdings muss ich an dieser Stelle sagen, dass alles was ich hier beschrieben habe nur die Vorstellung davon ist, wie ich mir vorstellen könnte, wäre es. Ich kann mich nicht in solche Situationen hinein versetzen, daher werden auch wenige Kapitel kommen die aus Nathanaels Sicht sein werden.
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The day we meet (BoyxBoy/Yaoi)
JugendliteraturCyrian ein normaler 17 Jähriger, gelangweilt vom Leben und ein Denker, kein Abenteurer, was so ziemlich kaum einer in seinem Alter verstehen kann. Er steht beinahe allem in seinem Leben Gleichgültig gegenüber, es gibt nur wenige Personen die ihm N...