Unschlüssig, ob ich wirklich klingeln sollte, stand ich am nächsten Tag vor Nathanaels Wohnungstür und zögerte. Mein Finger schwebte über der Klingel, doch ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen sie auch zu betätigen.
Ich atmete einmal tief durch und gerade als ich den Knopf drücken wollte öffnete sich die Tür schwungvoll.»Wie lange willst du noch hier rumstehen? Komm einfach rein.«Überrascht zuckte ich zusammen. Manchmal war er wirklich unheimlich,woher hatte er bitte gewusst das ich vor seiner Tür stand?
»Woher...?«
»Die Wände sind hellhörig und ich habe gehört wie eure Wohnungstür aufging, aber niemand die Treppe nach unten lief.« Er drehte sich um und verschwand in seiner Wohnung, während ich ihm folgte. Ich würde nie auf so etwas achten und für einen Moment kam mir der Gedanke, ob er vielleicht sogar darauf gewartet hatte.
Ich setzte mich an den Tisch und wartete, bis Nathanael kurz darauf zwei Tassen Kakao und etwas Kuchen auf den Tisch stellte.Vorsichtig nahm ich mir ein Stück, dann musterte ich ihn.
Obwohl er blind war, bewegte er sich mit einer gewissen Sicherheit, als würde er durchaus etwas sehen. Es gab nur diese kleinen Dinge, wo man merkte dass er sich langsam heran tastete, bis er den Gegenstand fand ohne ihn dabei umzuwerfen. In seiner Wohnung musste er sich ziemlich gut auskennen, aber ich hatte ja schon einmal mitbekommen, wie es außerhalb aussah.
»Kann ich dir eine Frage stellen?«, begann ich vorsichtig, doch er unterbrach mich seufzend.
»Ich kenne diesen Tonfall. Du willst mich fragen warum ich blind bin und wie ich mich zurecht finde, richtig?« Seine Stimme klang ein wenig genervt und ich verzog das Gesicht. Vermutlich hatte er diese Frage erwartet und jeder stellte sie irgendwann. Ich verzichtete darauf eine Entschuldigung zu murmeln und wartete nur, bis er anfing zu sprechen.
»Ich bin schon seit meiner Geburt blind, was heißt dass es dir schon einmal nichts bringt mir zu versuchen etwas mit Hilfe von Farben zu beschreiben – denn ich weiß nicht wie Farben aussehen. Ich kann nur unter bestimmten Schattierungen unterscheiden, also ich sehe wenn etwas hell ist oder wenn es dunkel ist. Das meiste um mich herum nehme ich durch mein Gehör, meinen Tastsinn oder durch Gerüche wahr.« Er nahm einen Schluck von seinem Kakao und tastete nach dem Teller, wo der Kuchen war.
»Personen zum Beispiel kann ich an ihrer Stimme, ihrer Gangart und je nachdem wie stark er in dem Moment ist, auch durch bestimmte Gerüche auseinander halten.«
»Also wenn du mir jetzt auf der Straße begegnen würdest, könntest du mich erkennen?« Seine Mundwinkel zuckten ganz kurz, doch dann setzte er wieder seine übliche Miene auf.
»Das ist von anderen Faktoren abhängig, aber in vielen Fällen schon. Aber wenn zu viele Geräusche oder Menschen um mich herum sind, ist es schwieriger. Je besser ich eine Person kenne, umso leichter fällt es mir auch sie zu erkennen.«
»Bist du denn dann auf eine richtige Schule gegangen?«
»Die meisten Jahre wurde ich tatsächlich zu Hause privat unterrichtet, bis meine Eltern der Überzeugung waren, dass ich sozial viel zu abgeschottet war und es mal an einer Privatschule probieren sollte, zumindest für die letzten Jahre. Mir wurde ein Sozialhelfer gestellt und Kai ging auf dieselbe Schule, daher hatte ich es geschafft die Zeit gut zu überstehen. Es hatte auch etwas Gutes, denn ich hatte ein paar Freunde dort gefunden. Bis dahin hatte ich abgesehen von Kai nur einen einzigen Freund.« Zum Ende hin veränderte sich seine Stimme und ich merkte, dass er bereute etwas zu viel erzählt zu haben. Ich fragte nicht weiter nach, sondern trank den Kakao aus und nahm mir noch ein Stück Kuchen.
Er tastete ebenfalls nach dem Teller und nahm das letzte Stück, dann lehnte er sich zurück.
»Obwohl du mir bisher geholfen hast, weiß ich noch gar nichts über dich.«
»So interessant bin ich auch gar nicht. Mein ganzer Name ist Cyrian, aber die meisten nennen mich nur Cy. Ich gehe noch zur Schule, bin erst siebzehn, mache dieses Jahr meinen Abschluss und wohne zusammen mit meiner Schwester in der Wohnung nebenan. Ich lese gerne und mag es allein zu sein, da ich so viele Menschen um mich herum nicht mag.«
»Dachte ich mir schon das du eher ein Einzelgänger bist. Wenn du willst kannst du gerne noch hier bleiben...« Er erhob sich und setzte sich aufs Sofa, während ich mich neben ihn setzte. Es war seltsam bei ihm zu sitzen, aber ich musste zugeben dass ich seine Gesellschaft irgendwie auch genoss, da es sich so entspannt anfühlte.
»Was ist mit deinen Eltern passiert?«, fragte er dann.
»Nichts spektakuläres. Sie haben sich den Traum von einem Bauernhof mitten im Nirgendwo erfüllt und weil ich das letzte anderthalbe Jahr Schulzeit keine Lust hatte noch auf eine neue Schule zu wechseln, hatten wir beschlossen dass ich für die Zeit einfach bei meiner Schwester bleibe.«
»Eine gute Entscheidung.« Wir sprachen noch ein wenig über die Schule, dann verabschiedete ich mich und ging wieder nach drüben. Meine Schwester telefonierte gerade, hielt aber bei meinem Eintreten kurz inne.
»Ja Mom er ist gerade gekommen... Ich geb ihn dir.« Sie reichte mir ihr Handy und ich hörte die Stimme meiner Mutter.
»Du Schatz, du hast doch in zwei Wochen Ferien, oder?«
»Ja wieso? Ich komme eine Woche vorbei, habe ich ja gesagt.«
»Könntest du vielleicht die ganzen zwei Wochen vorbei kommen? Dein Vater hat sich auf der Arbeit das Bein gebrochen und wir brauchen jemanden der uns bei den Tieren hilft.«
»Ja Mom, sicher kann ich. Du musst mir nur erklären was ich dann machen soll«, meinte ich und hörte wie meine Mutter erleichtert seufzte.
»Vielen, vielen Dank.«
»Kein Problem. Ich gebe dir Mary wieder.« Damit drückte ich meiner Schwester ihr Handy in die Hand und ging in mein Zimmer. Zwei ganze Wochen im neuen Haus, auf der einen Seite freute ich mich riesig darauf, auf der anderen Seite hatte ich absolut keine Lust zwei Wochen lang zu arbeiten.
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The day we meet (BoyxBoy/Yaoi)
Teen FictionCyrian ein normaler 17 Jähriger, gelangweilt vom Leben und ein Denker, kein Abenteurer, was so ziemlich kaum einer in seinem Alter verstehen kann. Er steht beinahe allem in seinem Leben Gleichgültig gegenüber, es gibt nur wenige Personen die ihm N...