Kapitel 8)

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Mein letzter Schulbesuch war schon sehr lange her. Trotzdem wusste ich noch, wie es gewesen war, im stickigen Zimmer auf dem Boden oder auf den wenigen Bänken zu hocken, mit aufgeschlagenen Büchern vor uns und auf die dreckige Tafel starrend, an der der Lehrer stand. Zahlen über Zahlen, Buchstaben über Buchstaben. Mara saß neben mir, redete von der Seite leise auf mich ein und ich hörte ihr mit halbem Ohr zu, versuchte allerdings, mich auch auf den Unterricht zu konzentrieren. Meine Schulbildung war mehr als nur lückenhaft, und auch wenn ich zehn Jahre älter war als alle anderen Schüler in diesem Raum, so konnte ich doch noch lernen.
Der Raum war gut gefüllt, wir drängten uns hinten an die Ecke, weil kaum noch Platz war. Mara war keine aufmerksame Schülerin, Marek war einen Jahrgang über den Mädchen. Die ganze Zeit behielt ich ein Bild von Tjara im Hinterkopf, sodass ich meine Maske aufbehielt, beobachtete aus dem Augenwinkel meine Mitschüler, um mögliche Gefahren so schnell wie möglich zu identifizieren und sodurch war ich schnell erschöpft.
In den ersten Stunden ging es noch, aber je länger der Tag dauerte, desto mehr merkte ich, wie die Müdigkeit mich beherrschte. Das Jahr im Gefängnis, das Jahr beim Mann, die Jahre auf der Straße, ich war nicht gut trainiert. Dafür waren meine Sinne aber umso geschärfter. Ich hatte in der kurzen Pause auf dem Hof, in der Mara gegessen und ich die Mitschüler beobachtet hatte, mehrere Jungen bemerkt, die Mara mit ihren Blicken verfolgten, angriffslustig, lüstern, boshaft. Typische Schuljungs. Ich hatte das abschätzige Getuschel der Mädchen mitbekommen, wenn sie uns verstohlene Blicke zuwarfen, selbst die beiläufigen Blicke der Lehrer waren alles andere als freundlich gewesen. Marek schien sich hier wesentlich besser zurecht zu finden als seine kleine Schwester, er war ständig von Jungen und Mädchen umgeben, doch entging mir nicht, dass viele von ihnen mehr auf sein Geld als auf seine Freundschaft aus waren. Verständlich.
Einer intimeren Begegnung mit dem älteren Bruder Tjaras bester Freundin war ich bis jetzt entgangen, aber das würde noch kommen. Meiner Gefühlstäube war es zu verdanken, dass ich dem Kommenden keine Angst entgegenbrachte, keine Erwartung und keine Neugierde, einfach gar nichts. Immer noch war es das einzig Wichtige, dass Rahel in Sicherheit war, damit ich durch ihren Tod nicht verletzt wurde. Allerdings wanderten meine Gedanken manchmal, wenn ich mir sicher war, dass nirgends nähere Gefahr herrschte, zu den Benedicts, die gerade Maras Haus untersuchen sollten, herausfinden, wo das Mädchen fliehen würde, sobald ich meinen Plan ausgeführt hatte und wie sie sie abgreifen sollten.
Maras Beschützer wurden nicht auf das Schulgelände gelassen, doch sie waren uns am Morgen in einigem Abstand zum Gebäude gefolgt und ich sah sie manchmal an den Toren vorbeikommen. Noch wusste ich nicht genau, wie es ablaufen würde, das einzige, was ich mit Gewissheit sagen konnte, war, dass ich Marek gegen Mara benutzen würde. Ich wollte, dass sie uns ertappte, doch musste ich einen Weg finden, sie in die Richtung der Benedicts zu jagen. Dazu musste ich noch einmal mit ihnen in Kontakt treten. Wenn ich Glück hatte, würden sie sich morgen noch einmal auf dem Markt aufhalten, und ich könnte ihnen erklären, zu welchen Schluss ich gekommen war.
"Seit wann findest du Mathe so interessant, dass du zuhörst?", flüsterte Mara mir irgendwann ins Ohr. Ich wandte ihr den Kopf zu und grinste leicht. "Interessant? Vergiss es. Und dein Vater hat dir wirklich verboten, dieses Kleid anzuziehen?"
Tjara und Mara unterhielten sich im Unterricht nicht nur über vollkommen belanglose Themen, sondern auch über Themen, in denen ich nicht wirklich bewandert war. Themen wie Mode, Gefühle oder Träumen, Themen über Schulhierarchien und Freundschaften.

Mara nickte aufgeregt. "Ja, hat er. Ist das zu glauben? Ich meine, Marek darf anziehen was er will! Selbst wenn es Tausend Afghani kostet und überhaupt nicht passt."
Ich nickte. "Ja, stimmt, ich habe Marek schon in den merkwürdigsten Sachen gesehen. Aber ernsthaft, dein Vater kann es sich doch wohl leisten?"
Mara faltete die Hände über dem Herzen und setzte ein seliges Lächeln auf. "Du sprichst mir aus der Seele, Tjar. Aber erzähl; was ist bei dir so los? Also abgesehen von deiner Mutter? Habt ihr einen Weg aus eurer... finanziellen Krise gefunden? Und, oh, hast du sie davon überzeugen können, dass wir zusammen in den Urlaub fahren? Ich zahle es, ehrlich."
Ich biss mir auf die Unterlippe. "Nein, noch nicht, ich fand es nicht passend. Meine Mutter musste in den letzten Tagen bei der Arbeit passen, deshalb ist unser Geldzufluss gerade total tot, aber ich finde schon was."
"Miss Andelier, Miss Sawbi, haben Sie uns etwas mitzuteilen?", fragte der Lehrer. Mara lächelte ihn mit göttlicher Falschheit an. "Nein, Sir, eigentlich gehen unsere Privatgespräche Sie überhaupt nichts an."
Das Geld ihres Vaters machte es ihr wohl möglich, sich so unverschämt zu verhalten wie sie wollte. Mara stieß mich an und warf mir einen verwirrten Blick zu, wahrscheinlich, weil ich still geblieben war. Ich zuckte die Achseln, lehnte mich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß, stellte meine Beine auf und gähnte herzhaft.
Zwar genoss ich das Fehlen meines Kopftuchs noch, aber ich hätte jetzt liebendgerne meine Burka an, damit ich mir wenigstens für einen kurzen Moment eine Auszeit gönnen konnte. Trotz der plötzlichen Energie, die ich bekommen hatte, als ich auf die Benedicts traf, merkte ich, wie sehr die Konzentration an meinen Kraftreserven zerrte, nachdem ich mich nun seit geschlagenen fünf Stunden als Tjara ausgab. Ich war über die Zeit im Gefängnis wohl aus der Übung gekommen, früher hatte ich es einen ganzen Tag ausgehalten, ohne dass se besonders anstrengend wurde.
"Alles gut?", flüsterte Mara mir ins Ohr, der auch endlich aufgefallen war, dass meine Konzentration schwand. Ich biss stärker auf die Unterlippe, bis mich der bittersüße Geschmack des Blutes an Rahel erinnerte, deren Leben von mir abhing.
"Klar. Die Pflege für Merissa war nur anstrengend, ich habe nicht viel Schlaf bekommen in den letzten Tagen." Ich reckte das Kinn.
Mara nickte zwar, aber sie wirkte nicht vollkommen überzeugt. Trotzdem drückte sie mir mitfühlend die Schulter, lehnte ihren Kopf dagegen und seufzte. "Marek hat mich letzte Nacht auch wachgehalten. Er behauptet, wenn du dich nicht meldest, sei das darauf zurückzuführen, dass dir was passiert ist. Keine Ahnung, wieso der sich so große Sorgen macht."
Ich hingegen wusste es. Mit aller Macht, die ich noch aufbieten konnte, die nicht darauf verwendet wurde, mein Gesicht Tjaras bleiben zu lassen, schlug ich die sich anbahnende Erschöpfung zurück, rief mir alles ins Gedächtnis, das mich in den Jahren auf der Straße hatte durchhalten lassen. Ich war nicht vor meiner Familie geflohen, um jetzt aufzugeben. Ich hatte nicht einen Mann getötet, um jetzt zu scheitern. Ich war nicht aus dem Gefängnis gekommen, um zu versagen. Ich war eine Gestaltswandlerin, vielleicht die letzte, die es gab, dies war meine Gabe, und meine Gabe würde mich nicht verlassen, wie Gina und Nanny es getan hatten. Ich war stark genug, um weiter zu machen, ich war wach. Ich hatte das afghanische Gefängnis überlebt, ich würde jetzt nicht an einer solch einfachen Aufgabe scheitern, wie ein paar Menschen für ein paar Stunden meines Gesichts zu betrügen. Mein Vater hatte mir gesagt, ich sei nicht richtig, ich sei eine dreckige Betrügerin, von meiner Geburt an dazu verdammt, im Gefängnis zu verenden. Wollte ich ihn Recht behalten lassen?
Graue Augen drängten sich in meinen Kopf, vereinten sich mit meinem inneren Kampf. Ich merkte, wie Kraft ihren Weg zurück in meine Knochen fand, wie meine Muskeln sich wieder entspannen konnten, wie mein Herzschlag sich beruhigte und meine Gedanken sich klärten. Meine Lider, die so unendlich schwer waren, gingen weiter auf, ich konnte tief Luft holen und war wach.
Pünktlich zu Stundenschluss standen Mara und ich auf dem Gang, wo wir schon von Marek erwartet wurden, der sich von einem Kumpel verabschiedete und mir ein verschmitztes Lächeln schenkte. "Schwesterherz, wer ist denn die Schönheit bei dir?", fragte er grinsend.
Mara verdrehte die Augen. "Ich wusste gar nicht, dass du mich doppelt siehst. Na, wie steht's, wer kommt mit? Ich habe absolut keine Lust mehr auf die letzten beiden Stunden."
Zwei Stunden Geschichte standen uns noch bevor. Tjara mochte kein Geschichte. "Klar. Was ist mit dir, Marek?"
Der Junge zuckte die Achseln und schloss sich uns an, als wir uns durch die Schülermassen nach draußen drängten. Tjara schien es egal zu sein, dass sie schwänzte, wo ihr der Schulbesuch von ihrer Mutter doch schwerlich ermöglicht wurde, und weder ihre beste Freundin noch deren Bruder schienen sich Gedanken darüber zu machen, was sie taten.
"Kian starrt dich an", erzählte Mara mir kichernd. "Während du dich auf Mathe konzentriert hast, konnte er die Augen gar nicht von dir nehmen. Wusstest du das?"
Marek lief neben uns her, abwesend, unaufmerksam, glücklich. "Wusste ich was?", fragte ich abgelenkt und lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf Mara. Sie stöhnte und knuffte mich. "Dass Kian auf dich steht, Herzchen. Mal ehrlich, wer hätte das gedacht? Dass Chan eine Schwäche für dich hat, wusste ich schon immer, ich sag's dir, aber Kian? Es wird immer besser. Letzten Endes kriegst du sie alle und wir gehen leer aus. Das wäre unverzeihlich."
Ich grinste sie gönnerhaft an. "Keine Sorge, ich lass dir den ein oder anderen."
Ich erspähte die Beschützer Tjaras Freundin ein paar Meter hinter uns, wachsam, aber sie verschmolzen recht gut mit dem Hintergrund. Nicht so gut wie ich, aber das war auch schwer, immerhin konnte ich mein Aussehen verändern.
"Weißt du was? Du musst uns was kochen", beschloss Mara, nachdem einige Minuten schweigend vergangen waren. Das waren keine guten Aussichten. Mit Physik kam ich einigermaßen klar, dafür, dass ich erst mit dreieinhalb Tagen mit irgendetwas in diesem Fachbereich vertraut war, grenzte es wohl an ein Wunder, doch das Kochen ging nicht in meinen Kopf rein. Bilder von überkochendem Wasser schossen durch meinen Kopf, von verbranntem Essen, Flammen auf dem Herd, Rauchschwaden in der Luft. Dann von einem Gürtel, der durch die Luft zischte, von dem Boden, auf dem ich mich wiederfand. Ein Schauer jagte mir über den Rücken.
"Was denn?"
Marek seufzte genüsslich. "Lass dir was einfallen. Kannst du dich noch an die Suppe erinnern, die du vor ein paar Monaten gemacht hast? So was in der Art."
Auch Mara schien sich an das Essen erinnern zu können, dass Tjara damals gemacht hatte, und auch ihr schien es geschmeckt zu haben. Wieso musste das verdammte Mädchen auch ausgerechnet meine größte Schwäche zum Hobby haben? Ich biss mir auf die Unterlippe. Die Rezepte in dem Kochbuch, das ich auf mein Zimmer bekommen hatte, waren nicht besonders schwierig gewesen, doch ich konnte mir vorstellen, dass ich schon bei den einfachsten Sachen scheiterte.
Ein paar Menschen drängten sich in den Straßen aneinander vorbei, ich sah einen Taschendieb, einen kleinen und flinken Jungen, der sich zwischen den Menschen hindurchschlängelte und mal hier, mal dort etwas aus einer Tasche zog. Ein kleines Mädchen saß am Straßenrand, blickte die Passanten mit großen, unschuldigen Augen an, zog eine Schnute und bekam ein paar Geldstücke in den Schoß geworfen. Zwei Frauen quatschten eifrig miteinander, während sie ihren Kindern hinterherliefen, die vorrausrannten. Ein Mann und eine Frau schrieen sich an der Straßenecke lauthals an, gestikulierten wild mit den Händen und warfen mit allem auf den anderen, was sie gerade fanden, sei es nun Essen oder Schuhe oder Sand. Zwei Jungen duckten sich hinter einem Haus, spähten um die Ecke und schnitten Grimassen, als ein dritter zu ihnen aufschloss, schwerfällig und keuchend.
Mara plapperte schon wieder auf mich ein, diesmal ging es um Jungs. Marek drehte demonstrativ den Kopf weg und nahm Kontakt zu einer jungen Frau auf, die an uns vorbeieilte und ihm nur einen verächtlichen Blick zuwarf.
"Also, was hältst du von Kian?", fragte Mara plötzlich, als sei ihr wieder eingefallen, worüber wir vorhin gesprochen hatten. Störrisch verschränkte ich die Arme vor der Brust und wandte meine Aufmerksamkeit gezwungenermaßen ihr zu. Schnell durchforstete ich mein Gehirn nach einem Kian, aber bis Mara ihn vorhin angesprochen hatte, war mir seine Existenz vollkommen unbekannt gewesen.
"Weiß nicht", gab ich vage zurück. Mara schnappte empört nach Luft. "Du weißt es nicht? Kian... Kian ist ein Gott! Was würde ich alles dafür geben, dass er mich so ansieht, aber nein, er hat dich gewählt, und du weißt nicht, was du davon hältst? Nein, Stopp, so geht das nicht. Du wirst morgen zu ihm gehen und ihn ansprechen. So etwas lässt man sich nicht entgehen!"
Marek, dem das Thema noch immer völlig gleichgültig zu sein schien, versuchte immer noch die Frau davon zu überzeugen, mit ihm ins Gespräch zu kommen, doch sein Vorhaben schien keines guten Endes gesegnet zu sein.
"Wenn du das sagst", brummte ich und spielte verloren mit meinem Shirtsaum herum. Obwohl es mir momentan viel leichter viel, Tjara vorzutäuschen, war Maras ständiges Gerede anstrengend, und noch anstrengender war es, darauf zu reagieren, vorzugeben, ich würde zuhören. Das Aussehen an sich zu ändern, das war leicht, aber auf Dauer einen Charakter nachzuahmen war nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung, es sei denn, es war ein grimmiges, stilles Mädchen ohne Freunde, die es nerven konnten.
"Hey, wenn es wegen deiner Mutter ist, tut es mir leid", meinte Mara versöhnlich und hakte sich bei mir unter. "Aber ich glaube, es ist besser, es solange zu vergessen wie es geht, als Trübsal zu blasen. Meinst du nicht auch, Marek?"
Als ihr Bruder seinen Namen hörte, schloss er eilig zu uns auf und ließ die desinteressierte Frau stehen. "Hm? Ja, bestimmt."
Tjaras beste Freundin sah ihn enttäuscht an. "Du hast kein einziges Wort gehört, oder?"
Er versuchte sich an einem entschuldigenden Lächeln. "Ihr habt über Jungs geredet. Kian, oder? Ja, Tjar, du solltest dir das nicht entgehen lassen. Auch wenn es mir tief im Herzen wehtut..."
Maras Blick wurde erbost. "Hör auf damit, Marek! Ich sagte dir, dass ist meine beste Freundin, du sollst es lassen!"
Wir ließen den Platz, auf dem am Morgen der Markt gewesen war, weit hinter uns und kamen in die Straße, in der Mara und ihr Bruder wohnten. Hier standen größere Häuser aneinander gereiht, der Boden war sauber, die Straßen waren kaum bevölkert. Vor den Häusern waren mannshohe Zäune mit Spitzen am Ende errichtet, um Eindringlinge draußen zu halten, es gab einen kleinen Vorgarten und dahinter erhoben sich Häuser, die für meine von Elend geschulten Augen sehr luxurös aussahen.
"Bist du dir sicher?", meckerte Marek missmutig. "Komm schon, sie kann doch deine beste Freundin sein und meine feste Freundin! Da spricht nichts gegen, oder?"
Seine Schwester wurde von fröhlich und verspielt in Sekundenschnelle zu wütend und aggressiv. "Nein! Das geht nicht! Das würde unsere ganze Freundschaft zerstören, und das wirst du nicht tun! Zwischen dir und meiner besten Freundin wird niemals etwas sein, verstehst du? Ich möchte es nicht!"
Marek schoss einen kurzen Blick auf mich ab, ironisch und genervt. Ich erwiderte ihn mit einem zaghaften Lächeln. Es stimmte; Mara stand einer Beziehung zwischen Tjara und Marek mehr als negativ gegenüber. Das war gut für mich und Rahel, schlecht für die Verliebten und Mara, aber letztere waren mir egal.
Mara schloss die Tür des Hauses auf und ließ uns an ihr vorbei nach drinnen. In ihren Augen funkelte immer noch die Wut, ihr Gesicht war kalt, aber sie wirkte nicht mehr so, als ob sie jeder Zeit einen Menschen verprügeln würde. Auch gut, denn ich wollte mich nicht als Opfer anbieten. Marek verschwand sofort um die Ecke, während Mara und ich weiter ins Haus hineinliefen, wo sich vermutlich ihr Zimmer befand. Die Beschützer folgten uns nicht nach drinnen. Der Flur, von dem mehrere Türen abgingen, endete an einer großen, von Licht durchflutete Küche, die mit einem Esszimmer verbunden war. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es ein großes Fenster, das Blick auf einen Garten und einen kleinen Pfad freigab, doch der Garten war von einem hohen Zaun umgeben, dessen oberes Ende mit Stacheldraht umgeben war. Keine Chance, reinzukommen. Dort waren keine Wachen postiert, stellte ich zufrieden fest.
"Machst du schon mal Essen?", fragte Mara mich, warf ihre Schultasche in eine Ecke und trat ihre Schuhe achtlos von ihren Füßen. "Ich gehe kurz duschen, heute Morgen hat Marek das Bad besetzt."
"Mach ruhig", erwiderte ich. Das war gut, wenn sie weg war, hatte ich mehr Zeit, mit dem Essen zu experimentieren, bis es mir einigermaßen gelang. Von der echten Tjara wusste ich, dass Mara sehr lange duschte. Tjaras Freundin warf mir einen flüchtigen Luftkuss zu und wuselte durch eine Tür davon. Ich sah mich um, kontrollierte den Raum, aber nirgends hingen Kameras und es gab auch niemanden, der mich beobachten könnte.
Eine der Türen, durch die Mara nicht gegangen war, stellte sich als eine Vorratskammer heraus. Mich erinnerte die gigantische Sammlung an Essensvorräten an den Hunger, den ich über Jahre ständig gespürt hatte und auch an die rare Verpflegung bei Tjara Zuhause. Zwar würde ich jetzt nichts mitnehmen können, doch es war immer gut zu wissen, wo die nächste Verpflegung lauerte.
Die zweite Tür war eine Abstellkammer für Putzzeug, Besen und Eimer und Schwämme, Handtücher und Sprühseife standen neben einer Waschmaschine, die allerdings nicht lief. Die dritte Tür war endlich die, nach der ich gesucht hatte; der Hinterausgang.
"Was machst du da?", fragte eine belustigte Stimme hinter mir.
"Euren Garten bewundern", antwortete ich gleichermaßen amüsiert, schloss die Tür und drehte mich um. Marek stand dicht vor mir, seine Mundwinkel waren gehoben und seine Augen strahlten liebevoll. Die Tür hinter mir war mir auf einmal unangenehm bewusst.
Seine Hände landeten auf meinen Hüften, er kam noch näher, bis unsere Nasen sich streiften. Mir wurde klar, dass er heute Morgen den Duschgang seiner Schwester nicht unabsichtlich verhindert hatte. Sanft drückte er seinen Mund auf meinen.
Rahel. Meine kleine Schwester sah mich an, ihre Haare flatterten im Wind, der über die raue Klippen fegte, hinter ihr bröselten Steine ab und fielen mit einem hohlen, lauten Geräusch die Schlucht hinab. Das Echo hallte von den Wänden wider. Sie verlagerte ihr Gewicht, als ich mich in Mareks Armen versteifte, nach hinten, mehr Steine bröckelten. Meine kleine, süße Schwester, meine unschuldige Rahel war in Gefahr. Ich schlang meine Arme um Mareks Hals, drückte meinen Körper an seinen und erwiderte den Kuss heftig.
Rahel kam wieder ein Stück zurück, der Boden unter ihren Füßen hörte auf zu fallen, aber noch immer pfiff der Wind um ihren Körper, noch immer trennten sie nicht mehr als zehn Zentimeter vom Abgrund, zehn Zentimeter, die eine Reaktion von mir überwinden könnten.
"Ich muss kochen", flüsterte ich, als Marek sich einen Moment von mir löste und mich überglücklich ansah. Er lachte und drückte mir noch einen Kuss auf die Lippen. "Fortsetzung folgt", hauchte er mir ins Ohr, ein unheilvolles Versprechen, vielleicht eine Drohung.
"Unbedingt", entgegnete ich grinsend und schob mich an ihm vorbei. Rahel stand sicher einen Meter vom Abgrund entfernt, doch unter meinem Körper lösten sich ein paar Steine. Das war mir gleichgültig. Seit Jahren taten sie das, und nie war ich gefallen, immer kamen welche dazu, die mich stützten.
Steine, so grau wie ein Paar Augen, das mir bei der flüchtigen Erinnerung an den Kuss durch den Kopf schoss.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt