Prolog

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Das Kopftuch lag auf dem Stuhl. Ich blickte mit leeren Augen an, wissend, dass er bald wieder da sein würde. Ich musste es tragen, wenn er wiederkam. Er würde sonst ausrasten, so wie sie es früher immer getan hatten. Aber ich wollte nicht.
Vor fünf Jahren war ich abgehauen. Drei Jahre nach meiner Volljährigkeit hatte ich es geschafft, ihnen zu entfliehen, den Mut zusammenzuraffen und einfach zu fliehen. Und jetzt hatte ich schon wieder nachgegeben. Nein, ich lebte nicht wieder bei meiner Familie. Meinen arroganten Brüdern, meinem gewalttätigen und strenggläubigen Vater und meiner helfenden, aber unterdrückten Mutter war ich endgültig entflohen. Doch er war noch schlimmer. Denn er war nicht mein eigen Fleisch und Blut, er hatte mir einmal erklärt, er sähe mich mit den Augen eines Mannes, wie jeder es tun würde, wenn er mich nur aus dem Haus lassen würde. Doch das tat er nicht. Lediglich die kleine, dreckige Terrasse, die nach hinten rausging, durfte ich manchmal betreten.
Meine nassen, pechschwarzen Haare, die sich sonst wild kringelten, hingen mir, vom Wasser erschwert, über die Schultern. Er wollte von mir, dass ich immer ein Kopftuch trug, egal, was passierte. Ob ich nun Essen machte, das Haus putzte, auf die Terrasse ging oder schlief. Nie sollte ich es ablegen, es sei denn, ich duschte.
Kalte, kurze Duschen, abends, kurz bevor er zurückkam. Duschen, die ich oftmals verplempert hatte, um hektisch noch meine Aufgaben zu Ende zu führen. Ich war einfach nicht zur Hausfrau geschaffen. Ich konnte das nicht. Mein Essen schmeckte wie der Ziegenmist, der mich einmal tatsächlich am Leben erhalten hatte. Nach meinem Staubwischen sah der Boden aus, als hätte ich eine Kuhherde durch das Haus gejagt.
Genau erinnerte ich mich noch an seine ersten Schläge. Es war einige Monate nachdem er mich aufgenommen hatte geschehen. Ich hielt ihn für den Mann, der mir Schutz gewährte. Der mir Unterschlupf bot, während alle ihre Türen vor mir verschlossen oder mich sogar hatten melden wollen. Ich dachte, er wolle nur einen Gefallen von mir. Also versuchte ich, die Wohnung zu säubern, das Geschirr abzuwaschen, Essen zuzubereiten. Ich scheiterte kläglich.
In dieser Nacht schlug er mich, bevor er mich zum Bett schleifte. Immer behauptete er, er sei ein gottgefälliger Mann, er würde im Namen Gottes handeln. Als ich zu ihm kam, glaubte ich, dass er die Worte Gottes einfach nur anders verstand als meine Familie. Ich musste mich bei ihm nicht vollkommen verhüllen, auch wenn er das Kopftuch streng voraussetzte. Doch nach dieser Nacht wusste ich, er verstand es nicht einfach anders. Er tat, was er wollte.
Vor Jahren hatte ich Allah abgeschworen. Meine Familie würde mich dafür bestrafen. Er würde mich dafür bestrafen. Doch mein Gott hatte mich verlassen, sowie alle anderen, die ich in meinem Leben gekannt und geliebt hatte. Meine Großmutter Nanny, die immer für mich da gewesen war, meine beste Freundin Gina, meine Schwester Rahel. Wenn es einen Gott gab, dann war ich es ihm nicht wert, ein richtiges Leben zu führen.
Ich hörte die Tür aufgehen. Noch immer stand ich im Raum und starrte auf das Kopftuch. Er machte sich nicht die Mühe, sich anzukündigen. Er wusste, dass ich ihn gehört hatte. Gleich würde er kommen. Dieses Kopftuch wollte ich nie wieder anlegen. Aber er würde mich dafür bestrafen. Nie wieder wollte ich seine Bestrafungen spüren.
Die Angst, die Wut, die Entschlossenheit, ich wusste nicht, was davon mich aus meiner Starre löste, doch auf einmal lief ich los. Rannte aus dem Zimmer, stolperte um die Ecke, bis ich gegen gegen eine Schublade in der Küche prallte. Er würde mich gehört haben. Würde wissen, wo ich war. Gleich war er da.
Mit zitternden Händen riss ich wahllos eine Schublade auf. Die richtige. Einmal war ich froh darüber, hier so viel Zeit verbringen zu müssen. Das Messer lag schwer in meiner Hand. Ich kümmerte mich nicht darum, dass ich es an der Schneide gepackt hatte, dass es mir in die Haut schnitt, als ich es durch die Hand gleiten ließ, um den Griff zu packen. Er betrat die Küche, ich nahm den verhängnisvollen Blutgeruch wahr, der ihn immer umschwebte, wenn er von seinen Machenschaften zurückkehrte, von denen er mir nie erzählt hatte. Er war kein Soldat, das war alles, was ich wusste.
Noch sah er nicht, was ich in der Hand hielt. Noch sah er nicht das Blut, das mit einem leisen Ploppen auf den Boden traf. Ich hätte mir das Leben nehmen können. Doch dafür war ich viel zu stolz. Ich war durch die Hölle gegangen, Daheim, bei meiner Familie. Ich war rausgekommen. Ich würde nicht sterben. Nicht, wenn ich ihn nicht mitnehmen könnte.
"Wieso trägst du kein Kopftuch?", fragte er mit seiner schroffen Stimme, die ich ebenso hasste wie die meines Vaters. "Ich sagte dir, du hast hier immer ein Kopftuch zu tragen, Reva!"
Er wusste nicht einmal, was der Name bedeutete. Natürlich nicht. Nanny hatte mich immer so genannt, ganz gleich, dass meine Eltern mir einen anderen Namen gaben. Viele Namen hatte ich schon gehabt. Der Erste war Nila gewesen. Ihn hatte ich abgelegt, als ich von meiner Familie floh. Danach kamen viele, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte. Als er mich aufnahm, nannte ich mich wieder Reva. Stern. Stärke. Es gab mehrere Bedeutungen. Einst hatte Nanny sie mir aufgezählt, als ich noch ein Kind war, bis sie von einer Krankheit dahingerafft wurde, über Nacht war sie einfach fort.
Ich hatte geglaubt, jetzt würde alles enden, als er mich aufnahm. Deshalb wollte ich wieder einen Namen annehmen, mit dem ich mich identifizierte. Nanny hatte ihn mir gegeben, und Nanny hatte nie etwas ohne Grund getan.
Er trat hinter mich. Dicht hinter mich. Aber nicht dicht genug, als dass ich keinen Platz hätte, mich umzudrehen, Schwung zu holen. Noch nicht. Warte. Er hob seine Hände an meine Haare, packte meinen Schopf und wollte meinen Kopf herunterreißen, da drehte ich mich um. Rammte ihm das spitze Ende des Messers tief in den Hals. Seine Augen wurden erst riesig, dann quollen sie leicht hervor. Er röchelte. Spuckte Blut. Und ich trieb die Schneide weiter in sein Fleisch, ließ ihn für all das leiden, das er mir über die Jahre angetan hatte. Schläge. Elektroschocks. Vergewaltigung. Gefangenhaltung. Ich spürte seinen Gürtel noch auf meinem Rücken.
Dann ließ ich das Messer los und er stürzte zu Boden. Seine Hände auf die Wunde gepresst, doch er schnitt sich bloß an dem, was aus dem Hals herausragte. Meine Hände waren blutüberströmt. Keine Tränen kamen mir, obwohl ich in diesem Moment so viel verlor.
Immer hatte ich geglaubt, ich sei unschuldig. Dass das Leben einfach unfair und grausam zu mir war. Doch dem war nicht so. Vielleicht hatte ich es verdient. Tatenlos sah ich dem Mann zu, wie er sich auf dem Boden wand, während das Blut eine Lache bildete. Nein, ich war nicht unschuldig. Ich war eine Mörderin. Ich verlor den Glauben an meine eigene Güte, an meine Unschuld, ich verlor die Hoffnung und meine Selbstachtung, während der Mann vor meinen Füßen sein Ende fand.
Ein letztes Röcheln, ein letztes Blutspucken, ein letzter hilfesuchender, bettelnder Blick. Dann war es aus mit demjenigen, der mich seit Jahren quälte. Und als ich die Augen hob, meine unpraktischen Röcke zusammenraffte und über die Leiche stieg, wusste ich, dass es kein Zurück mehr gab. Jetzt fahndeten sie nicht mehr nach einem Flüchtling.
Von nun an fahndeten sie nach einer Mörderin.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt