Ich bekam einige Tage zum Ausruhen, zur Fortbildung, zur Aufpäpplung. Ich aß viel, durfte eine leerstehende Halle in dem Gebäude als Laufbahn benutzen, duschte regelmäßig, wurde gepflegt. Ich bekam Bücher und Kleidung zur Verfügung gestellt, alles, was ich verlangte. Ein paar Wunden wurden verarztet, andere wurden geschont, wenn sie aufrissen, der Dreck wurde von meinem ganzen Körper entfernt, die Jahre auf der Flucht und hinter Gittern fortgewaschen. Ich aß viel zu viel, doch mein Körper musste an Gewicht zulegen, ich musste wieder kräftiger werden. Meine Schultern waren schmal geworden, selbst das flüchtige Training reichte nicht aus, um sie breiter zu machen. Meine Oberarme waren mit einer Hand umschließbar, und das, obwohl man Muskeln hervortreten sah. Meine Beine waren wieder etwas stärker, seit ich mehrere Stunden am Tag Ausdauerlauf in der Halle betrieb, sogar ein Fahrrad bekam ich, alt und verrostet zwar, aber dennoch fahrtüchtig. Sie waren schlank und lang, meine Haut hatte den dunklen Südländer-Teint, meine Knie waren vernarbt. Meine kleinen, schmalen Füße waren ausgemergelt gewesen, doch jetzt traten die Sehnen etwas zurück. Wenigstens stachen meine Rippen und Hüftknochen nicht mehr so hervor, auch wenn sie noch immer deutlich höher lagen als die Bauchfläche, die sich zwischen ihnen spannte. Mein Schlüsselbein trat deutlich hervor, dann kam mein Hals. Mein Gesicht war feminin scharfkantig. Meine Kieferlinie war scharf geschnitten aber nicht besonders breit, meine Wangenknochen waren allerdings umso höher. Mein Mund war klein und hatte recht volle Lippen, meine Nase war dünn und gerade und nicht allzu lang. Meine Augenbrauen waren pechschwarz und schwangen sich in einem geraden Bogen über meine Augen, zur Schläfe immer dünner werdend. Meine Augen waren mandelförmig, von dichten, langen und schwarzen Wimpern umrahmt. Die Iris hatte einen seltsamen, metallisch glänzenden Bronzeton, hart und unnachgiebig, ohne Licht eingelaufenes Bronze, in Helligkeit auf Hochglanz poliert. Selbst meine Haare hatten sie retten können, die Knoten und der Schmutz war entfernt worden, sie fielen mir lockig, leicht und widerspenstig auf die Schultern. Ich war nicht besonders groß, etwa 1,67, meine Beine länger als mein Oberkörper, aber ich war wendig, schnell und flink. Früher hatte ich etwa 55 Kilogramm auf die Wage gebracht, inzwischen waren es weit weniger.
Ich lernte viel über Geographie, über Amerikanische Gesetze, Geschichte, politische Lagen und Bräuche. Ich erweiterte meine Kenntnisse über die Sprache, ich übte schreiben, lesen und sprechen, ich merkte mir physikalische Gesetze, biologische Studien, mathematische Formeln und chemische Substanzen, ich prügelte sprachliche Grundlagen im Schnelldurchgang in meinen Kopf, ich las mir an einem einzigen Tag alle wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte durch, die die Frau und der alte Mann für mich rausgelegt hatten, ich lernte Weltbestseller und Filmklassiker kennen, bekam ein Handy und einen Laptop zur Verfügung gestellt, hörte angesagte Musik und erfuhr alles über die neusten Trends in Amerika.
Das meiste davon musste ich eigentlich nicht wissen, doch die Organisation wollte, dass ich mich so gut auf dem anderen Kontinent zurecht fand, dass ich mich auf wichtigere Angelegenheiten konzentrieren konnte.
Ich bekam einen gefälschen Ausweis, auf dem ich mit dem Namen Tiger Lorenson eingetragen wurde, einen Reisepass und einen angepassten Lebenslauf, Kleidung, die den Temperaturen dort angemessen war, genug Geld in US-Dollar (dessen Umrechnung mir umständlich erklärt worden war), einen Führerschein für Lastwagen, Auto und Motorrad und einen Schulabschluss.
Sergio und die Frau verbrachten Stunden damit, sich mit mir eine Geschichte auszudenken, die glaubwürdig war, keine Lücken hatte und alles abdeckte, dass die Benedicts möglicherweise über mich wussten. Sie fragten mich ab, sie ließen mich die Geschichte hunderte Male aufsagen, sie hakten immer nach den Details, die leicht zu vergessen waren, doch ich vergaß kein einziges Mal etwas. Alles, was ich lernte, merkte ich mir, ganz gleich, welchen Fachbereich es betraf, wie viel Zeit ich dafür gehabt hatte, es blieb in meinem Kopf hängen.
Und dann, sieben Tage später, erklärte der alte Mann, ich wäre nun vorbereitet. Mustaf und Pjedro hatten die Benedicts im Auge behalten, damit diese nicht verschwanden, doch sie blieben in Kabul, streunten in den Straßen herum und spionierten wohl alles aus, doch was sie suchten, war nicht klar.
Pjedro lotste uns zu einem Platz, an dem er die Benedicts kurz zuvor noch gesehen hatte. Von Rahel durfte ich mich nicht verabschieden, doch das war auch nicht weiter schlimm. Zwar war meine Telepathie wieder abgeschwächt in den letzten Tagen, doch noch immer besaß ich genug Kraft, um mit ihr zu kommunizieren, was nun aber auch dem Essen zu verschulden war.
Selbst das Klappmesser war mir diesmal aberkannt worden, denn ich würde es nicht durch die Flughafenkontrolle schmuggeln können, dafür aber hatte ich eine große Sporttasche mit, in der alles eingepackt war, das ich laut der Frau und dem alten Mann brauchte. Die wichtigsten Bücher und Aufzeichnungen, die ich mir in den letzten Tagen gemacht hatte, Kleidung, Geld, meine Papiere, ein Mobiltelefon mit zwei SIM-Karten, etwas Nahrung, ein paar Bücher, die ich laut Pjedro lesen musste, einen iPod mit Musik, der meinen Start erleichtern sollte, wie die Frau es genannt hatte.
So stieg ich ein paar Straßen von dem derzeitigen Aufenthaltsort der Benedicts aus dem SUV. Die schwarze Jeans passte sich angenehm an meine Beine an, auch wenn sie etwas zu weit war, das weite, kurzärmlige weiße T-Shirt, dessen vorderer Saum mir gegen meinen Willen in den Hosenbund gesteckt worden war, dort aber nicht lange verweilt hatte, flatterte leicht und Wind fuhr durch meine von der Dreckschicht gelösten Haare. Ich schulterte die Tasche und blickte kurz zum SUV.
"Wir fahren in ein paar Tagen hinterher", erinnerte Sergio mich kühl. "Du bist nicht frei, vergiss das nicht. Gib alles, oder deine Schwester verliert ihr Leben durch meine Hand."
Die Kleine hat Bohrak umgebracht, hatte Sergio gesagt. Sie ist nicht perfekt. Bohrak war sein Partner gewesen, so viel hatte ich schon mitbekommen. Als ich ihn umgebracht hatte, wurde ihm die Frau zur beiseite gestellt, und Pjedro war ihr Fahrer, doch Sergio vermisste Bohrak noch. Er hasste mich, mehr als alle anderen hier.
Ich nickte, drehte mich um und ging weg, auf mein neues Leben hinzu. Ein paar Frauen am Straßenrand warfen mir verächtliche Blicke zu, weil mein Kopftuch fehlte, doch ich würde nicht lange hier bleiben. Ein Mann rief mir eine Beschimpfung zu, doch ich beachtete ihn nicht. Mit den Fingern strich ich an den Häuserwänden entlang, um mich zu stützen, während ich meinen Geist aussandte, um Victor Benedict zu finden. Seine Verbindung musste da sein, ich musste sie nur irgendwie greifen, ich musste die Struktur sehen und mich mit ihr verbinden. Es dauerte nicht lange, da spürte ich ein sachtes Pochen. Ich folgte ihm, während ich unsicher und langsam weiterlief. Der SUV stand immer noch da, sie warteten darauf, dass ich mich umwandelte.
Ich fand den Ursprung des Pochens. Mauern erhoben sich, schwarz und mannshoch, undurchdringlich. Es gab Ritzen, doch selbst die waren mit schwarzen Waben verstopft, wie schwarzer Nebel, dicht und betäubend und undurchblickbar. Ich spürte Macht, ich merkte, wie die schwarzen Waben gegen die Mauern anstürmten, mehr Platz brauchten, ausbrechen und die Umliegenden sich unterwerfen wollte. Ich merkte, wie viel Kraft und Übung es brauchen musste, diese Waben zurückzuhalten, die Macht zu verstecken und nicht freizulassen.
Ich hatte Victor Benedict gefunden.
Langsam strich ich um die Mauern herum. Ich war mir jederzeit bewusst, dass er genau wusste, dass ich da war, seine Aufmerksamkeit folgte mir, aber er verscheuchte mich nicht, obwohl er sicher fähig gewesen wäre. Sein Geist verströmte eine einladende, kalte Präsenz, willensstark und siegesgewiss. Keine Wärme war da, aber diese Kälte hieß mich viel mehr Willkommen, als eine jede Hitze es gekonnt hätte.
Ich war keine Seelensucherin, ich konnte keine Seelenspiegel-Verbindungen aufspüren, aber sehr wohl konnte ich den Machtfluss spüren, der aus seinem Geist floss und auch wieder zurückkam, von einem anderen. Sein Seelenspiegel konnte nicht weit entfernt sein. Ich tauchte kurz in den Machtfluss ein, ließ mich darin treiben, mitreißen, stärkte mich, trank daraus. Victor Benedict verweigerte es mir nicht.
Meine Hände glitten von der Hauswand ab, an der mich festgestützt hatte, während ich auf der Suche nach ihm war, denn sie war zu Ende. Ich war auf dem Platz angekommen. Überall trieben sich Menschen herum, wie immer, doch ich sah ihm gerade in die Augen. Er stand dort, zwanzig Meter von mir entfernt, still im steten Strom der schubsenden und drängelndne Passanten, eine einsame Insel, die mich ansah.
Ich musste ihm nichts vorspielen, keine Illusion vorhalten. Irgendwie hatte ich es gewusst, und irgendwie hatte ich es nie in Erwägung gezogen. Ich dachte, es sei jemand aus der Schule, vielleicht jemand aus der Organisation, obwohl die Lösung vor mir lag, darauf wartete, dass ich sie sah, doch ich hatte sie ignoriert. Das war viel schlimmer, als alles andere. Jetzt ging es nicht mehr darum, Victor Benedict vorzuspielen, ich sei sein Seelenspiegel, es ging darum, es wirklich zu sein.
Rahel stand an ihrer Klippe. Und ich schubste sie. Meine kleine Schwester fiel, ihre Haare flatterten nach oben, ich sah das blanke Entsetzen über meinen Verrat in ihrem erblassten Gesicht, als sie auf einen hervorstehenden Felsen aufprallte, ihre Glieder zerschmettert wurden, bevor sie abprallte und weiter stürzte, verdreht und blutig und schon halb tot, an Felswänden entlangschliff, sich den Kopf blutig schlug und schließlich am von Nebel umwarberten Fuß der Schlucht verschwand. Weißgrauer Nebel, kein schwarzer. Ich fiel hinterher, denn Rahel war ich gewesen, ich brachte mich mit ihr um, ich konnte mich nicht festhalten, denn ich hatte sie gestoßen.
Als ich mich wieder der Realität besann, stand Victor Benedict mir noch immer wartend gegenüber, geduldig, ruhig, emotionslos. Ich würde Rahel in eine Schlucht stürzen und mich mitziehen lassen, wenn ich jetzt aufgab, wenn ich mich umdrehte. Ein gebrochenes Herz konnte ich verwinden, doch Rahel war viel mehr als das, sie war alles, was ich besaß, alles, an das ich mich seit Jahren festklammerte.
Meine Hand umklammerte den Gurt der Sporttasche fest, als ich die ersten Schritte auf das lebendige Verderben meiner Seele zutat. Ein weiterer Schritt folgte, wackelig und unsicher. Rahel strauchelte auf der Klippe. Sie war schon tot. Denn ich war nicht stark genug. Aber ich war immer stark genug. Schwäche gehörte nicht zu meinem Vokabular. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie aufgegeben, noch nie Schwäche gezeigt, das würde ich auch jetzt nicht tun.
Als ich vor ihm stehen blieb, war ich kurz versucht, ihm etwas vorzuspielen, doch das war ich nicht. Ich musste ich selbst sein. Abwesend ließ ich meinen Blick über ihn gleiten, stellte mich so, dass ich es sofort mitkriegen würde, sollte er seine Pistole gegen mich heben.
"Kommst du mit?", fragte er nur, und ich nickte. Wir waren alleine, seine Begleiter waren nirgends zu entdecken, doch er stand hier und wartete auf mich. Ich sah nicht zurück, ich war schon längst außer Sichtweite des SUVs. Sie würden nicht erfahren, dass ich wirklich Victor Benedicts Schwäche war, das würde mein Leben beenden, das durfte ich nicht zulassen, doch sie würden es nicht herausfinden.
Er ging heraus, bahnte sich einen Weg durch die Menge, und ich folgte ihm, stumm, aufmerksam. Ein Benedict. Nicht irgendein Benedict. Victor Benedict. Der Agent. Der berufsorientierte, höfliche und ständig überlegene FBI-Agent. Über ihn hatte Gina nicht gerne erzählt, er hatte ihr Angst gemacht. Sie meinte, Männer wie er würden Mädchen wie uns irgendwann etwas nachweisen können und unser Leben beenden. Sie hatte ein Leben gehabt, ihr Leben war es gewesen, über Dächer zu laufen und in Minenfelder zu rennen, nur weil ihr langweilig war. Mein Leben war Rahel, und dieses Leben war in Gefahr, wenn ich nicht mit dem Mann mitgehen würde, der Gina Angst gemacht hatte, ohne dass sie ihn jemals gesehen hatte.
Wir verließen den Markt, aber auf einer anderen Seite als der, zu der es zu Maras und Tjaras Schule ging. Ein einfacher Schüler wäre zu gut gewesen. Egal, was das Alter anging. Vielleicht ein junger Lehrer. Nur nicht der Benedict.
Wir gingen zu einem Hotel. Vor ein paar Wochen hätte niemand mich in ein Hotel gelassen, erst recht nicht in ein solch nobles, doch neben dem Benedict wurde ich mit freundlichem Lächeln hineingelassen. Es war prachtvoll eingerichtet, mit Marmorsäulen und einem roten Teppich und großen Kronleuchtern, doch alles, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog, waren die bewaffneten Türsteher, das Personal, die möglichen Scharfschützenverstecke überall.
"Es ist gesichert", sagte Victor, als er meine argwöhnischen Blicke bemerkte. Ich sah ihn an, ausdruckslos. Von seinen Leuten gesichert? Seine Leute waren nicht meine Leute, seine Leute hatten mich ins Gefängnis gebracht, seine Leute wollten mich hinter Gittern sehen. Meine Leute waren hinter Gittern.
Victor Benedict sah nicht so aus, als ob er mit seiner Bestimmung sonderlich glücklich war. Er ging davon aus, dass er den Rest seines Lebens mit mir zu fristen hatte. Das würde er nicht. Ich würde ihn ausliefern und damit wäre sein Leben sowieso beendet. Ich hingegen würde weiterleben, nachdem ich Rahels Leben gerettet hatte, ich würde mich retten, nicht ihn, so wie ich immer mich rettete.
Eine hübsche Frau grüßte Victor Benedict auf der Treppe freundlich. Er nickte ihr zu. Wir liefen die Treppe hinauf, die mit dem gleichen roten Teppich ausgelegt war wie der Rest hier, gewunden und sauber. Das Schweigen, das zwischen uns stand, gab mir Zeit nachzudenken. Einerseits dürfte es leichter werden, ihn zu schwächen, wenn ich tatsächlich sein Pendant war, er würde sich schneller auf mich einlassen. Andererseits konnte es durchaus sein, dass er meine wahren Absichten durch die Verbindung spürte, dass er herausfand, was ich ausheckte, und dann meine Schwester und mich opferte. Doch ich musste es versuchen, ich musste alles versuchen, um Rahel zu helfen.
Die Tür, vor der wir hielten, war ebenso gehoben wie das ganze Hotel. Der Benedict zog eine Schlüsselkarte durch den Schlitz, ein grünes Lämpchen blinkte, der Türknauf ließ sich drehen und er ließ mich an sich vorbei ins Zimmer. Hinter der Tür war ein Eingangsflur, auf der einen Seite ein Garderobenständer, auf der anderen Seite eine Tür die wohl zum Bad führte. Die weiß tapezierte Wand ging weiter, bis der Flur ein einen Raum mündete, in dem zwei große Betten standen. Ein großer Kleiderschrank an der Wand, ein Fenster, eine Minibar und ein Flachbildfernseher.
Auf einem der Betten lag Trace Benedict, er hatte sein Handy in der Hand, seine Pistole lag gesichert auf dem Nachtisch und er schien zu schlafen. Jedenfalls bis wir reinkamen, denn als die Tür aufging, schreckte er hoch und fuhr sich verschlafen durch die Haare.
"Endlich!", sagte er, ohne mich entdeckt zu haben. "Ich dachte schon, du bleibst wirklich hier. Vic, wir müssen los, tut mir leid. Wir haben gesucht, aber sie ist es nicht, wir müssen zurück nach Ha-" Er unterbrach sich, als er mich im Türrahmen erblickte.
Seine Pistole lag außer Reichweite. Konnte ich sie vor ihm erreichen? Ich legte die Tasche auf dem Boden ab. "Wo sind Lake und Xavier?", fragte Victor seinen Bruder und ging an mir vorbei. Sein Bett war gemacht, eine fertig gepackte, kleine Tasche war da, doch vor dem Aufbruch war er noch einmal losgegangen, in der Hoffnung, ich möge doch noch auftauchen.
"Lake verabschiedet ihren Vater, der muss weiter in den Sudan. Neues Einsatzgebiet. Und... äh... Xav macht auch irgendetwas."
Trace war noch immer abgelenkt, vom Schlaf oder von mir. Die Pistole rückte immer näher, während ich mich unauffällig auf sie zubewegte. Trace stand vom Bett auf, gähnte noch einmal und blinzelte. Victor beobachtete mich, das war nicht gut, ich war die, die Menschen beobachtete. Sein Blick huschte zum Nachtisch, sein Gesicht verdüsterte sich einen Augenblick. "Wie viel Zeit bleibt uns noch, Trace?", fragte er, während er den Raum mit eiligen Schritten durchmaß und mir die Pistole vor der Nase wegschnappte. Ich blieb stehen, lehnte mich gegen die Wand und durchsuchte die Decke nach Videokameras.
Trace war jetzt wach, er sammelte seine letzten Habseligkeiten zusammen und stopfte sie in seine Seitentaschen. "Der Flug geht in zweieinhalb Stunden, wir müssen eine halbe Stunde vorher einchecken. Zum Flughafen brauchen wir auch etwa eine halbe Stunde."
Es waren keine Kameras im Raum, jedenfalls entdeckte ich keine. Außer den Pistolen, Victors Glock und Traces Sig Sauer, schien das Zimmer auch an Waffen karg ausgestattet zu sein, allerhöchstens die zugespitze Reservestange für den Kleiderschrank die in einer Ecke stand konnte man noch gebrauchen, doch war die Pistole einer improvisierten Lanze überlegen.
"Nila?", fragte Victor. Der Name klang falsch. Er war falsch. Dieser Name sagte mir nichts, ich hieß nicht so. Ich schloss meine Hände um die kalte Eisenstange, wenigstens etwas sicherer fühlte ich mich damit.
"Hör mal, wir wollen dir nichts Böses, okay?", warf Trace Benedict mit einem kritischen Blick auf meine Lanze ein. Nein, vielleicht wollten sie das nicht. Doch Menschen taten mir etwas Böses, ob sie es wollten oder nicht. Selbst wenn ich müsste, ich könnte diese Eisenstange nicht zielgenau werfen. Sie müsste Trace oder Victor Benedict in den Bauch, die Brust oder in den Hals erwischen, um sie tödlich zu verletzen, und vorher würden sie mich erschießen.
"Leg das weg", versuchte Trace es noch einmal, seine Stimme diplomatisch. Victors Gesicht war abweisend, eine kalte Fassade. Was er dachte, konnte ich nicht erraten. Er plante nicht, mich in nächster Zeit umzubringen, das war alles, was momentan zählte, ich wollte nicht wissen, was ihm sonst noch durch den Kopf schoss.
Die Tür ging auf. Sie ging wieder zu. Schritte. Die Frau mit der silberschwarzen Maske tauchte auf, ohne Kopftuch diesmal. Ihre rotbraunen Haare wallten ihr um den Kopf, sie waren schulterlang und dicht, an manchen Stellen lockig. Sie drehte sich zu mir um, musterte mich kurz. "Sie ist da", stellte sie schließlich fest.
"Nila, was hast du getan, um im Gefängnis zu landen?", fragte Victor schließlich direkt. Die Frau sah zu meiner Eisenstange, die ich noch immer nicht losgelassen hatte, in der Hoffnung, irgendwer würde mir nahe genug kommen, damit ich sie ihm direkt durch die Brust bohren konnte und nicht werfen musste.
Ich musste ich selbst sein. Ich war ich selbst. Wer war ich selbst? Was würde ich antworten? Womit würde ich Victor Benedict am meisten von mir überzeugen können? Einschüchterung? Würde ich jemanden einschüchtern? Würde ich es verschweigen? Würde ich lügen?
"Etwas Illegales", antwortete ich. Die Frau rieb sich die Haut unter der Maske. "Sie ist Hochsicherheitsgefangene, Vicki. Sie war in Einzelhaft."
Sie war sich nicht zu gut, um unverblümt vor mir zu sprechen, was ich wohl getan hatte. Die Frau setzte sich auf Victors Bett, ihre Schultern waren angespannt, ihre Augen aufmerksam, ihre Mundwinkel nur leicht hochgezogen.
"Wir müssen es wissen, Nila, wenn du in den Staaten gesucht wirst, müssen wir das vorher wissen", erklärte Victor ruhig und missachtete seine Freundin. Ich war nicht abgehauen. Ich war rausgelassen worden. Die Organisation hatte meine Entlassung veranlasst, ich war frei. Aber das durften sie nicht wissen.
Ich bückte mich, ohne einen von ihnen aus den Augen zu lassen, öffnete meine Sporttasche und suchte meinen gefälschten Ausweis heraus. Sobald ich ihn hatte, gab ich ihn Victor. Er überflog ihn schnell. Unter dem Namen Tiger Lorenson wurde ich in den Staaten ganz sicher nicht gesucht. Er nickte knapp.
"Wie kommst du an einen gefälschten Ausweis?", fragte die Frau neugierig und beugte sich vor, um auch einen Blick darauf zu erhaschen. Ich steckte ihn weg, schloss meine Tasche und blickte die Frau ausdruckslos an. Sie erwiderte meinen Blick mit ihren Augen, die je nach Lichteinfall die Farbe zu ändern schienen. Sie glänzten, ihre Wangen waren von Sommersprossen gesprenkelt, die bis zu ihrer charakteristischen Nase reichten und ein gesunder, leuchtender Rotton stach hervor.
Sie richtete sich auf, ohne den Blick abzuwenden. Ich hatte das Gefühl, als würde sie jemandem in diesem Raum eine Nachricht übermitteln, aber ich könnte mich auch täuschen. Erst seit so kurzem nahm ich Gedankenströme von anderen wahr, ich kannte mich nicht damit aus. Wenn ich Nanny Glauben schenken sollte, was ich immer tat, dann war dies erst das Anfangsstadium meines kommenden Machttipps.
"Lake!", zischte Victor Benedict hörbar. Ich hatte mich nicht getäuscht, sie hatte Kontakt zu ihm aufgenommen. Und scheinbar gefiel ihm nicht, was Lake ihm erzählte. Trace Benedict kam von seinem Bett herüber, die Sachen fertiggepackt, und legte Victor eine Hand auf die Schulter. Auch er schien sich mit ihm zu unterhalten, und dabei bemerkte ich die Seitenblickte, doch es störte mich nicht.
Lake stand schließlich mit einem wütenden Schnauben auf, funkelte Victor an und stakste aus dem Zimmer. Vielleicht ging sie Xavier Benedict suchen, der immer noch nicht aufgetaucht war. Trace schüttelte müde den Kopf, akzeptierte den Ausgang ihrer privaten Diskussion aber.
Victor Benedict hockte sich vor mich hin, sodass unsere Augen auf gleicher Höhe waren, obwohl ich saß und wartete darauf, dass auch sein Bruder das Zimmer verließ, was bald darauf erfolgte. Ich blieb stumm sitzen, angespannt, abwartend.
"Bist du in Schwierigkeiten?", fragte er, als wir alleine waren. Seine rechte Hand stützte er neben meinem Bein ab, aber er hielt höflichen Abstand. Ich schüttelte den Kopf. Bald würde ich mich zu vernünftigen, arkustisch verständlichen Antworten herablassen müssen, doch durch das Schütteln oder Nicken konnte ich immerhin nichts Falsches sagen. Nanny sagte, dass das Seelenspiegelband einen dazu verleitete, Dinge, die man eigentlich hinterm Busch halten wollte, auszuplaudern, weil es einem falsches Vertrauen vorgaukelte. Das musste ich verhindern, um Rahel zu schützen.
Er schloss die Augen kurz, versuchte, einen neuen Anfang zu setzen. "Du sagst mir die Wahrheit, und ich sage dir die Wahrheit. Wie bist du aus dem Gefängnis gekommen?"
Die Wahrheit. Meine Lügengeschichte war von nun an die Wahrheit. Ich war Tiger Lorenson, ich besaß einen Personalausweis mit diesem Namen, und Tiger Lorensons Geschichte, obgleich die sich nie ereignet hatte, war nun meine Geschichte.
"Ich wurde von Freunden rausgeholt", rezitierte ich die Geschichte, die ich hatte auswendig lernen müssen. "Sie haben meine Entlassungspapiere unterzeichnet und mich rausgeholt. Einer meiner Freunde hat von einem geplanten Anschlag auf Mara Andelier gehört und ich habe sie beschützt. Ihr wart meine Möglichkeit, sie unauffällig zu schützen."
Victor Benedict nickte knapp, aber ich sah in seinen Augen, dass er mir nicht ganz glaubte. "Wir arbeiten später daran weiter, wir müssen los. Hast du alles? Musst du dich von deinen Freunden verabschieden?"
"Ich habe alles."
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Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)
Fanfiction|| Als die Tür hinter mir zufiel, hatte ich zwar den Besuch oder das Angebot, diesen Ort ein für alle Male hinter mir zu lassen, schon wieder aus meinem Kopf verbannt, doch etwas Anderes saß dort fest, klammerte sich mit eiserner Bitterkeit an mein...