Als das Flugzeug vom Boden abhob, war ich froh, dass Panik mir nicht mehr beiwohnte. Nie zuvor hatte ich meine Heimat verlassen, nie zuvor hatte ich in einer solchen Maschine gesessen. Rahel hatte mir viel vom Fliegen erzählt, sie liebte es, wenn die Maschine beim Start absackte und man das Gefühl hatte zu fallen, sie liebte es, wenn es wackelte, wenn man eine Wolkendecke durchbrach und sie liebte es, aus dem Fenster zu gucken und die Welt unter sich zu sehen. Ich saß zwar am Fenster, konnte dem Anblick Afghanistans von oben aber nichts abgewinnen. Es war leicht gewesen, mich in das Flugzeug zu kriegen, fast schon zu leicht, doch Victor Benedict war FBI-Agent, für ihn war so etwas wahrscheinlich leichter. Er saß neben mir, neben ihm Lake.
Lake kaute auf ihrer Unterlippe herum, hatte einen E-Book-Reader im Schoß, aber sie beschäftigte sich mit ihrem Handy. Die letzten beiden Brüder saßen hinter uns, was nicht dazu beitrug, dass ich mich weniger bedrängt fühlte.
Ich hatte ihm vorhin meine Antwort gegeben. Jetzt schuldete er mir eine. "Was ist deine Gabe?", fragte ich. Langsam musste ich mich an ihn rantasten, musste herausfinden, wo seine Stärken lagen und wo seine Schwächen, worauf ich achten musste, was ich mir zunutzen machen musste. Victor Benedict wandte den Kopf und sah mich an. Sein Gesicht war verschlossen, aber nicht abwehrend, seine grauen Augen sahen mich ehrlich an. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster, beleuchtete eines seiner Augen, das daraufhin stahlgrau schimmerte, während das andere dunkel war.
"Kontrolle", antwortete er. "Ich kann Menschen meinen Willen aufzwingen."
Ich hatte gewusst, dass Victor Benedict ein Ausbund der Macht war. Diese Macht allerdings war noch gefährlicher, als ich es vermutet hätte. Ich hatte mich geirrt. Ich musste nicht einfach nur sein Seelenspiegel sein. Das würde nicht reichen, um ihn so zu blenden, dass er sich für meine Schwester aufgab. Ich musste viel mehr für ihn sein, ich musste in seinem Herzen sein. Er musterte mein Gesicht, suchte nach einem Ausdruck, doch er würde keinen finden. Das einzige, was seine Auskunft in mir auslöste, war das Gewissen, dass ich Rahel nun mit anderen Mitteln retten musste.
"Wieso warst du im Gefängnis?", fragte er, da nun er wieder an der Reihe war. Lake horchte auf, beugte sich vor und sah mich an. Ein leises Grinsen umspielte ihre Mundwinkel, ihre Augen funkelten. Diese Frau, wer war diese Frau? Lake. Mehr wusste ich über sie nicht. Sie gehörte wohl zu den Benedicts, aber was tat sie hier, wieso war sie mitgekommen?
Ich war ich. In mich sollte der Benedict sich verlieben. So war es vorherbestimmt, oder nicht? Nanny hatte erzählt, dass man dem Seelenspiegelband gerade deswegen nicht vertrauen durfte; es funktionierte wirklich. In mich sollte er sich verlieben, wenn ich mich nicht verstellte, und das würde er auch. Aber ich würde mich auch in ihn verlieben, wenn ich nicht arg aufpasste. Für Rahel aber, für Rahel würde ich dieses Risiko eingehen.
"Ich habe jemanden umgebracht", brachte ich heraus.
Die Frau klatschte in die Hände. "Ich wusste es! Siehst du Vicki, ich hab's dir gesagt! Wer mit dir zusammenkommt, ist entweder eine kaltblütige, herzlose Mörderin oder eine Dame aus gehobenen Kreisen. Mach dir nichts draus, Tiger, ihr zwei passt perfekt zusammen."
Victor Benedicts Gesicht war kühl, aber nicht entsetzt. Zu gefallen schien es ihm eindeutig überhaupt nicht, doch als er sich Lake zuwandte, ahnte ich schon, dass er bereits mit Frauen zu tun gehabt hatte, die Menschenleben auf dem Gewissen hatten. Xavier Benedicts Kopf tauchte über uns auf.
"Du bist unschuldig", sagte er mit gerunzelter Stirn. "Crystal sagt, du wärst unschuldig!"
"Ist sie auch", knurrte Victor. Er wandte sich wieder an mich. "Wieso hast du diesen Menschen ermordet?"
Meine Geschichte. Wieso hatte ich den Mann ermordet? Ich war nie bei ihm gewesen, Bohrak hatte mich in meiner Geschichte nie misshandelt. Aber wieso hatte ich ihn ermordet? Über dieses Thema hatten Sergio und die Frau lange gestritten. Sergio war der Meinung, ich solle so unschuldig wie möglich dargestellt werden, wohingegen die Frau behauptete, wir müssten den wahren Ereignissen so nahe wie möglich kommen - ich stimmte ihr letzten Endes zu. Aber wo war meine Geschichte?
"Er hat mich bedroht." So hatte es angefangen. Sie hatten sich für Notwehr entschieden. Genau. "Er wollte mich vergewaltigen. Ich habe mich gewehrt."
Diese Geschichte traf die Wahrheit sogar recht gut. Wieso die Benedicts nichts von meiner Tat wussten, war rätselhaft. Sie hatten versucht, mich aus dem Gefängnis zu holen, sie mussten sich doch wohl über meine Taten erkundigt haben? Vielleicht war es nur eine Prüfung, vielleicht wollten sie wissen, ob ich sie anlog. Wenn es so war, dann wandelte ich bis jetzt noch auf einem sicheren Pfad. Solange ich keine Details nennen musste, war alles gut.Lake wechselte einen schnellen Blick mit Xavier Benedict. Das Grinsen war aus ihrem Gesicht verschwunden. "Du... wie hast du ihn getötet?", fragte Lake gespannt. Victor warf ihr einen vernichtenden Blick zu, widerrief ihre Frage aber nicht.
"Sein Messer in seinem Hals." Solange das, was ich erzählte, die Organisation oder die Ausmaße der Geschichte nicht erwähnten, blieb ich bei der Wahrheit. Irgendwer würde Lügen spüren können. Irgendwer würde sich erkundigen, falls ich zu unglaubwürdig wurde. Irgendwer würde meine Lügen entlarven, also war es besser, wenn ich keine erzählte.
Lake pfiff leise. Xavier verzog das Gesicht, aber Victor blieb ruhig. Als ich ihn kurz ansah, war seine Stirn zerfurcht und seine Augen wirkten nachdenklich. Ich hatte einen Mann erdolcht, um mein Leben zu retten. Das war nicht selbstlos, aber war ich des Mordes schuldig? Die afghanischen Behörden hatten entschieden, dass ich es war. Die Organisation hatte entschieden, dass ich es war. Crystal Benedict hatte entschieden, dass ich es nicht war. Ob Rahel wusste, was ich getan hatte? Wusste sie darum, dass ihre Schwester eine Mörderin war? Würde es sie stören? Hatte meine Schwester Moralvorstellungen, die so sehr von meinen abwichen?
"Es war Selbstverteidigung", beschwor Lake. "Und denk daran, Vicki, was wir erst vor ein paar Monaten in der Lagerhalle getan haben."
Sie war nicht unschuldig. Lake, wer auch immer sie war, hatte Dinge getan, vor denen normale Menschen zurückschreckten. Sie war kein Agent, da war ich mir sicher, es war nicht ihre Aufgabe, Kriminelle zu erschießen, und dennoch hatte sie jemanden ermordet. Vermutlich auch aus Selbstverteidigung, und dennoch.
Xavier hatte sich hingesetzt, doch jetzt erklang seine Stimme gedämpft: "Du bist aber auch nicht sein Seelenspiegel, Lake."
"Nein, aber seine beste Freundin", hielt die Frau dagegen. Seine beste Freundin. Wieso nahm man seine beste Freundin mit nach Afghanistan? Doch Lake schien alles andere als hilfsbedürftig. Sie hatte eine Pistole und konnte wahrscheinlich gut damit umgehen, unter dem Schalk in ihren Augen lugte immer Wachsamkeit hervor und ich hatte gesehen, wie sie das Flugzeug automatisch nach Gefahren absuchte, sobald wir hineingekommen waren.
"Wie hast du erfahren, dass ich hier bin?", wollte ich wissen, um die Unterhaltung über meine Unschuld oder Schuld zu unterbrechen. Wenn er mich übers Netz gefunden hatte, dann hatte ich ein Problem, denn im Savantnetzwerk sollte ich eigentlich gar nicht existieren. Nanny hatte dafür gesorgt, dass weder Rahel noch ich darin auftauchten, damit nie jemand auf die Idee kam, uns darüber schaden zu wollen.
"Meine Schwägerin Crystal ist Seelensucherin."
Was es nicht viel besser machte. Durch sie konnte er mich vermutlich überall aufspüren, wo ich war, obgleich mein Geist keine nennenswerten Kennzeichen von sich gab. Ich war unauffällig, ja, ich tauchte unter Menschen unter und war fast unmöglich aufzuspüren, doch eine Seelensucherin konnte all diese Hindernisse überwinden. Hatte sie ja schon. Sie hatte mich hier aufgespürt, in Afghanistan, in einem Gefängnis.
"Was ist jetzt mit deinen Freunden?", fragte Victor Benedict. Was war mit ihnen? Wieso war ich jetzt bei den Benedicts? Wieso hatte ich sie alleine gelassen? "Sind auf der Flucht, weil sie diesen Anschlag verhindert haben."
"Wer hat den Anschlag geplant? Woher wussten sie davon? Wie haben sie ihn verhindert?" Ausdruckslos wie immer, doch ich meinte Ungeduld aus seiner Stimme herauszuhören. Vielleicht ging es ihm nicht schnell genug, mich kennenzulernen, vielleicht war es der Urinstinkt als Agent.
Doch nun war ich mit dem Fragen an der Reihe, und er musste warten. "Wieso hast du mich jetzt geholt? Wieso nicht früher, wieso jetzt?"
Wenn Crystal Benedict eine Seelensucherin war, dann hätte er mich schon vor einem Jahr finden können, als sie auf die Benedicts stieß. Ihre Ankunft war eine der letzten Nachrichten, die ich erhalten hatte, bevor ich im Gefängnis eingepfercht und von der Savant-Welt abgeschirmt worden war. Lake nickte bekräftigend, dann warf sie Victor einen hämischen Blick zu. Seine schadenfrohe beste Freundin. Sie rieb sich abermals die Haut unter der Maske, und als sie verrutschte, erblickte ich eine langgezogene, helle Brandnarbe auf ihrer Haut. Die Entstellung verschwand sogleich wieder unter der Maske, doch ich hatte sie gesehen.
"Es hat lange gedauert, dich zu orten, und wir mussten dich erst einmal aus dem Gefängnis holen, die Behörden davon zu überzeugen war nicht leicht", erklärte Victor. Lake blickte ihn kurz an, verschlossen, ernst. Ich wusste, dass der Mann mich anlog, doch ich ging nicht weiter darauf ein. Er hatte mich angelogen, nun konnte er wohl kaum von mir verlangen, ihm die Wahrheit zu erzählen.
"Was war mit dem Anschlag?", hakte Victor nach und ignorierte Lake, die sich mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln abwandte.
"Eine religiöse Terrorgruppe, die von Mister Andelier im Stich gelassen wurden. Die Schwester von einem meiner Freunde hatte schon Stress mit ihnen, seit dem hat er Informationen gesammelt, um sie zu schützen. Wir haben mich eingeschleust, um sie im richtigen Moment aus dem Haus zu bringen."
Lake kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt auf ihr Handy, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie sich über etwas wunderte, das ich gesagt hatte, nicht, was den Inhalt ihres Handys betraf. Victor nickte knapp. Ich lehnte mich auf meinem Sitz zurück, überschlug die Beine und starrte aus dem Fenster. Bestmöglich musste ich diese Unterhaltung beenden, bis ich herausgefunden hatte, was sie bereits über mich wussten, und wo ich ihnen Lügen erzählen konnte, ohne dass diese als solche entlarvt werden würden.
"Du kannst dich transformieren?", fragte Trace Benedict irgendwann, nachdem sich längere Zeit Schweigen über uns gelegt hatte. Bei diesem Thema beispielsweise würde ich nicht um die Wahrheit herumkommen. Das Geheimnis um meine Gabe sofort aufzugeben gefiel mir gar nicht, doch ich hatte noch andere Fähgikeiten in der Rückhand. Jedenfalls hoffte ich das.
"Ja."
"Kannst du es beschreiben?", verlangte Lake neugierig.
"Ja."
Erwartungsvoll sah sie mich an. Victor ließ seinen Blick langsam durch mein Gesicht gleiten, als würde er etwas suchen, was ich verbarg. Was sah er wohl? Kalte, ausdruckslose Augen, entspannte Gesichtszüge, kein Anzeichen von Gefühlen. Vielleicht suchte er die. Vielleicht wollte Victor Benedict Gefühle bei seinem Seelenspiegel.
Genervt stöhnte Lake auf. "Wirst du es auch sagen?"
Ich sah sie an, dann richtete ich meinen Blick wieder aus dem Fenster. Ich wollte nicht mehr reden. Ich hatte in den letzten Tagen mehr gesprochen als in den letzten Jahren. Der Gesellschaft war ich bereits überdrüssig, mein Hals tat weh und mein Kopf schmerzte. Um Rahels Willen würde ich das alles durchstehen, doch es würde sie nicht vom Klippenrand schubsen, wenn ich schwieg.
Die Maschine wackelte, aber ich konnte noch immer nicht nachvollziehen, was Rahel daran toll fand. Ich konnte nicht nachvollziehen, warum man irgendetwas toll fand. Ich konnte nicht verstehen, wieso man Angst hatte, wieso man liebte, wieso man hasste und wieso man sich auf etwas freute. Für mich war alles gleich.
Eine Hand berührte mich sachte am Arm, und als ich den Kopf wandte, sah ich in stahlgraue Augen, die vom Sonnenlicht strahlten. Er sagte nichts, seine Hand berührte nur meinen Arm, und ich wandte mein Gesicht wieder ab, ohne mich wegzubewegen, ließ zu, dass er mich berührte. Ich könnte mich wegbewegen, ich würde mich wegbewegen, denn ich hatte keine guten Erfahrungen mich Berührungen. Aber ich tat es nicht.
Egal was passierte, er würde mir nicht schaden. Und auch wenn ich mich nicht von selbst auf ihn zubewegt hätte, auch wenn ich Kontakt absolut unnötig fand, von ihm drohte mir keine körperliche Gefahr, es wäre genauso unnötig, mich wegzubewegen. So saßen wir auch noch, als das Flugzeug sich in der englischen Hauptstadt London dem Boden näherte. Non-Stop-Flüge nach Amerika gab es von Kabul nicht, hatte Rahel mir einst erzählt, aber nach London gab es eine recht gute Verbindung, und von dort konnte man weiterfliegen.
Der Landeanflug war relativ turbulent, weiter vorne im Flugzeug fing ein kleines Kind an zu weinen und Lake setzte sich mit einem überaus genervtem Seufzen Kopfhörer auf, um es auszublenden. Ich merkte, wie Victor mich beobachtete, wahrscheinlich wollte er herausfinden, wie ich auf die Turbulenzen reagierte, aber es war mir ziemlich gleich. Wenn wir abstürzten, war Victor Benedict tot, und mit ihm mehrere Familienmitglieder, damit hätte ich meine Aufgabe erfüllt - auch wenn ich ihn nicht direkt töten, sondern nur ausliefern sollte.
Es bedurfte nicht viel Gerede, um zusammen aus der Maschine zu kommen, ich hatte kaum Sachen dabei, die es zu tragen bedurfte, und das Gepäck der Benedicts lagerte im Flugzeugbauch. Der Flughafen sah dem in Kabul nicht einmal so unähnlich, doch er war sauberer, der Himmel war hier von dichten, dunkelgrauen Regenwolken bedeckt und die Luft war frischer.
Lake starrte frustriert in den Himmel, bevor sie sich mit großer Aufmerksamkeit wieder ihrem Handy widmete, Trace und Xavier Benedict unterhielten sich leise und geschäftig und Victor hielt sich an meiner Seite. Wir bekamen nur ein paar Seitenblicke zugeworfen, erhielten aber keine große Aufmerksamkeit, anders als in Kabul.
Noch bevor wir das nahegelegene Flughafengebäude erreichten, rissen die Wolken auf und prompt ergoss sich ein steter Niederschlag über unseren Köpfen. Lake fing an, wüst zu fluchen, allerdings auf einer mir unbekannten Sprache, bevor sie anfing zu rennen, um dem Regen zu entkommen, Xavier direkt hinter ihr her, seine Frisur vor dem Wasser abschirment. Auch Trace beschleunigte seine Schritte, doch ich blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. Natürlich hatten wir auch in Afghanistan Regen, doch ich war schon lange nicht mehr während Regens draußen gewesen, zu lange war ich eingesperrt gewesen, bei meiner Familie, bei Bohrak, im Gefängnis.
Kühle, dicke Tropfen fielen mir ins Gesicht, liefen über meine Wangen, tropften von meinen Lidern, sammelten sich auf meinen Lippen. Innerhalb von Sekunden war ich vollkommen durchnässt, doch meine Sachen waren ohnehin schon so dreckig, dass sie die Wäsche gut vertragen konnten. Meine Haare wurden schwer, als sie sich vollsogen, mir wurde frisch.
"Miss, Mister, bitte begeben Sie sich nach drinnen, Sie dürfen sich nicht auf der Landebahn aufhalten", wies eine Stimme mich zurecht. Ich blinzelte und sah den kleinen Mann vor mir an. Er sah nicht gerade glücklich über das Wetter aus, obwohl ich vermutete hätte, dass man es in London gewöhnt sein musste.
"Ist gut", sagte Victor kühl, stand aber so gerade dar, dass er einschüchternd über dem kleinen Mann aufragte, was diesem keineswegs entging. Er schien noch ein wenig zusammenzuschrumpfen. Ich blinzelte mir ein paar Tropfen aus den Augen, leckte mir das Wasser von den Lippen und ging los, ohne den Mann eines weiteren Blickes zu würdigen.
Auch von Victors Haaren tropfte Wasser, sein Anzug war durchnässt, aber ihn schien das ebenso wenig zu interessieren wie mich. Sobald die Tür hinter uns zugefallen war und ich den Regen nur noch durch die beschlagenen Fenster sehen konnte, drang Lärm zu mir, von den vielen Tausend Reisenden, die sich geschäftig durch das Gebäude bewegten.
"Hast du noch nie Regen gesehen?", fragte Lake spöttisch, die sich durch die nassen Haare fuhr und mit angeekeltem Gesicht ihr T-Shirt auswrang, das sich innerhalb von wenigen Sekunden vollgesogen hatte.
Ich runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts. Vermtulich wollte sie keine Antwort, und selbst wenn sie eine wollte, sie würde keine bekommen. Trace Benedict spöttelte: "Du hast ihn vermutlich noch noch nie gespürt, Lake, immer wenn es anfängt zu regnen verschwindest du schlagartig und tauchst erst wieder auf, wenn die Sonne wieder scheint."
Lake verdrehte die Augen und konterte säuerlich: "Ich habe wegen dir auch schon äußerst unangenehme Erfahrungen mit Regen gemacht, Fleischbällchen, vergiss das nicht. Oder willlst du noch mal mit Schnee im Bett aufwachen?"
Xavier kicherte, scheinbar in Erinnerungen an Lakes Rache an Trace, während dieser sein Gesicht verzog. Victor beobachtete seine Familie bei ihren Frotzeleien und mischte sich nicht ein, aber ich konnte selbst du seine undurchdringliche, ausdruckslose Fassade die Zuneigung zu den Dreien sehen.
"Du kannst froh sein, dass du und Will ausgezogen seid, sonst würde das dir und deiner Miete nicht gut bekommen", meinte Trace ernst, aber das halbe Grinsen in seinem Gesicht konnte den Eindruck nicht aufrecht erhalten.
"Wir müssen weiter", kündigte Victor trocken an, als Lake zu einer Erwiderung ansetzte, die wahrscheinlich sowieso nur zu einem weiteren Konter auf Traces Seite führen würde. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, dass diese spaßhaften Auseinandersetzungen sehr lange andauerten und zu boshaften Rachezügen ausarteten.
"Ach komm, Vicki, lass uns unseren Spaß", quengelte Lake mit einem schiefen Lächeln, schloss sich uns aber bereitwillig an, als Victor genervt den Kopf schüttelte und sie stehen ließ. Ich ging etwas abseits von den anderen, behielt meine Umgebung im Auge. Zwar waren auch die Benedicts wachsam, aber sie arbeiteten zusammen, von ihnen selbst drohte ihnen keine Gefahr, während ich diese Unterstüztung nicht hatte. Nein, Victor Benedict würde mich körperlich nicht angreifen, er würde versuchen, mich, seinen Seelenspiegel, um jeden Preis zu schützen, aber diese Hingabe konnte ich mir seinen Gefährten nicht versprechen.
Frauen mit und ohne Kopftuch liefen durch die Gegend, mit engen T-Shirts, die sich über ihrer Oberweite spannten, engen Hosen, bauchfreien Tops, kurzen Hosen, weiten T-Shirts, Röcken und leichten Kleidern. Rosa neben Schwarz, Gelb neben Blau, Weiß neben Rot und Braun neben Lila. Frauen in maßgeschneiderten Anzügen. Kleine Mädchen mit bedruckten T-Shirts und Hosen, die mehr zeigten als verdeckten, alten Frauen, die sich auf Rollatoren stützten, grinsende Jungen, die sich mit ihren Schwestern schlugen, stritten, die sich durch die Gänge jagten, lachende Kinder. Küssende Pärchen, streitende, Freunde, die laut lachten, sich gegenseitig Sonnenbrillen auf die Nasen setzten oder Eis in den Mund stopften. Männer mit Gitarren, mit Cellokästen, mit Koffern oder Aktentaschen, in Hosen oder Anzügen oder Röcken.
Zu zweit patroullierten Flughafensecuritys durch die Gänge, mit Schutzwesten, Schlagstöcken und Pistolen, Handschellen und Elektroschockern. Jedes Mal, wenn einer von ihnen in Sichtweite kam, wandte ich mein Gesicht ab, ließ meine Haare vor mein Gesicht fallen und zog die Schultern hoch. Jedes Mal liefen sie an mir vorbei, ohne mich überhaupt richtig zu registrieren, doch das Unwohlbehagen blieb.
Lake allerdings begegnete den Polizisten mit fast genauso viel Argwohn. Zwar starrte sie sie herausfordernd an, doch ich konnte keine Spur von Zuneigung oder Respekt erkennen, nur Spott und Misstrauen. Die kleine Mörderin, die offenbar beste Freundin meines Seelengefährten war, war sicher nicht die Unschuld vom Lande. Was merkwürdig war, denn soweit ich wusste, umgaben sich die Benedicts mit rechtschaffenden, klugen und friedliebenden Menschen, und ich glaubte kaum, dass sich dies in den letzten Jahren, in denen meine Informationsketten abgebrochen waren, so grundlegend verändert hatte.
"Xav? Da seid ihr ja! Ich habe euch gesucht!", rief eine fremde Stimme und lenkte damit meine Aufmerksamkeit von den sich entfernenden Polizisten ab.
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Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)
Fanfiction|| Als die Tür hinter mir zufiel, hatte ich zwar den Besuch oder das Angebot, diesen Ort ein für alle Male hinter mir zu lassen, schon wieder aus meinem Kopf verbannt, doch etwas Anderes saß dort fest, klammerte sich mit eiserner Bitterkeit an mein...