Kapitel 4)

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Der Raum, in dem ich von nun an leben sollte, solange ich nicht auf einem Auftrag unterwegs war, war nicht viel gemütlicher als die Zelle, die ich das letzte Jahr bewohnt hatte. Allerdings konnte ich mich nicht beschweren - ich hatte ein Bett, und dies war mir auf der Straße nie vergönnt gewesen. Außerdem konnte ich kaum die Gütigkeit erwarten, mir den Mord an dem Mann zu vergessen, auch wenn ich mein Leben momentan freigekauft hatte.
Ich hatte ein Dachfenster, durch das Sonne in das karg möblierte Zimmer schien, doch da es zum Himmel hinausging, konnte ich den Standort dieses Gebäudes trotzdem nicht erahnen. Die Wände waren kahl, genauso wie in jedem anderen Raum, den ich hier bis jetzt gesehen hatte, das schmale Bett mit der weichen, durchgelegenen Matratze stand in der Mitte des kleinen Zimmers. Daneben stand eine mächtige Truhe, in der ich weitere Burkas fand, und, je nach Auftrag, der mir erteilt werden würde, nur ein Kopftuch und gewöhnliche Kleidung. Bücher gab es keine, auch kein Zeichen- oder Schreibmaterial, was mich darauf schließen ließ, dass mein Aufenthalt hier nicht von Dauer sein würde.
Man brachte mir irgendwann, als die Sonne schon aus meinem Sichtfeld verschwunden war, etwas zu Essen, Streifen von Rindfleisch, Kichererbsenpüree, eingelegte Oliven und Pita. Dazu eine Flasche Wasser. Überraschenderweise schmeckte das Essen ausgezeichnet, auch wenn das Wasser warm war.
Tatenlos auf dem Bett hockend, ab und zu ein Stück Pita mit Humus in meinen Mund schiebend, starrte ich die Eisentür an und fragte mich, wie es Rahel jetzt ging. Ihr Mann hatte ihr geholfen, ganz bestimmt, er hatte sie getröstet, doch wie lange würde es dauern, bis er selbst zusammenbrach? Meiner Schwester lastete die Schuld auf, die sie sich dafür gab, dass ich in dieser Situation war, doch er hatte Angst, sie war mutig. Egal, wie lange es dauern würde, sie hier raus zu bekommen - letzten Endes würde es Rahel sein, die ihn tröstete, und dann wäre meine Schwester alleine mit ihren eigenen Qualen.
>Rahel?<, fragte ich schließlich zögerlich. Ich war keine besonders mächtige Telepathin, sodass ich spürte, wie mein Geist sich mühsam einen Weg zu der Angesprochenen suchen musste, wie meine Worte in der Luft erzitterten, doch Rahel würde es spüren. Während meine Stärke in der Täuschung und in der Selbstverleumdung lag, hatte sie einen mächtigen Geist, so stark, dass sie es spürte, wenn man sie anlog, so stark, dass sie die Gefühle anderer Menschen manchmal fühlte und ihre eigenen übertragen konnte, um einem beizustehen. Rahel würde meine Kontaktaufnahme spüren und die Verbindung bestätigen.

>Nila? Oh mein Gott, Nila!<, antwortete sie erfreut und ich merkte, wie sie es mir abnahm, die Verbindung aufrecht zu erhalten. Zwar war es hinderlich, dass die Telepathie mir so schwer fiel, doch es hatte auch seine Vorteile. So war es für die Menschen, die ich mit meiner falschen Identität täuschen wollte, schwerer, hinter meinen Betrug zu kommen, wenn von meinem Geist keine besondere Macht ausging, und außerdem war ich dadurch viel schwerer zu orten. Auf meinem eigenen Gebiet war ich stark, sehr stark sogar, und außerdem galt meine Gabe als ausgestorben, schon vor Jahrhunderten sollten die letzten Identitäswandler gelebt haben und gestorben sein, sodass ich ziemlich zufrieden damit war. Nanny hatte gesagt, meine volle Stärke, sowohl in der Telepathie als auch bei meiner Gabe, würde ich erlangen, wenn ich mich mit meinem Seelenspiegel vereinte, doch sie hatte auch gesagt, dass sie mir davon stark abraten würde. Sie war eine alte Frau gewesen, stark und eigenwillig, jedoch ebenso misstrauisch und unabhängig. Nanny war es gewesen, die mich dazu erzogen hatte, Menschen zu misstrauen, bis sie mir ihre Vertrauenswürdigkeit bewiesen hatten, und es nicht andersherum anzugehen, Nanny hatte mir erzählt, wie schnell einem das Herz gebrochen werden konnte, wie schnell man betrogen werden konnte, wenn man nicht aufpasste, wie schnell man die Freiheit verlieren konnte. Gina hatte behauptet, meine Großmutter würde mir nur Angst machen und ich solle nicht auf sie hören, doch ich war der Frau unglaublich dankbar für jeden Ratschlag, den sie mir je erteilt hatte. Sie hatte bis jetzt immer recht behalten.
>Wo bist du?<, fragte ich Rahel, ohne sie darauf hinzuweisen, dass der Name Nila schon lange nicht mehr mein eigener war.
>Ich weiß es nicht genau, sie haben mir eine Augenbinde umgelegt, als ich weggebracht wurde. Ben und ich wohnen in einem kleinen Haus, wahrscheinlich am Rand von Kabul.<
Das erklärte auch, wieso es mir so schwer gefallen war, meine Schwester aufzuspüren. Schon jetzt spürte ich, wie sich ein Teil meines Geistes dagegen auflehnte, mit ihr zu sprechen, denn ich vernachlässigte meinen Schutzwall und ließ zu, dass Macht von mir ausging. Doch ich musste mit ihr reden.
>Kannst du beschreiben, wie es bei euch aussieht? Sind Wachen da? Seid ihr eingesperrt? Gibt es Fenster? Habt ihr Zugriff auf Waffen?<, hakte ich weiter nach. Jede Information könnte mir helfen, sie zu befreien, sie in Sicherheit zu bringen. Rahel hatte Vorrang, erst, wenn sie außer Gefahr war, würde ich mich um mich selbst kümmern.
>Unser Haus ist von ein paar Wachen umstellt, fünf oder so. Sie wohnen in Wohnwägen, es gibt nur einen Ausgang, der ständig bewacht ist. Waffen haben wir keine, nur ein paar stumpfe Küchenmesser, nichts, mit dem man sich helfen könnte. Die Fenster sind mit Gittern versehen, aber ich kann die Berge sehen, und auf der anderen Seite liegt die Stadt. Unsere Tür ist von außen abgeriegelt, die Gitter lassen sich nicht von den Fenstern entfernen. Wir bekommen Nahrung, haben fließendes Wasser und alles, was wir sonst noch zum Überleben brauchen, aber nach draußen können wir nicht.<
Dass Ben bei ihr war, beruhigte mich ein wenig. Sie waren zwar eingesperrt, doch wurde Gefahr von außen auch abgehalten, woraus auch immer die bestehen sollte. Auch, dass sie recht konfortabel zu wohnen schienen, waren gute Neuigkeiten. Gut im Sinne der Umstände.
>Rahel, ihr müsst euch ruhig verhalten. Wenn sie die Sicherheitsvorkehrungen verstärken, wird es schwerer für mich, euch raus zu holen. Pass darauf auf, dass Ben vor Angst keinen Hungerstreik einlegt. Euch passiert nichts, hörst du? Ich sorge dafür, dass euch nichts getan wird. Ich beeile mich, versprochen.<
Besorgnis klang in Rahels Stimme mit, als sie antwortete: >Pass bitte auf dich auf, Nila, ja? Dir darf auch nichts passieren. Du musst Ben befreien, aber tu nichts Unbedachtes.<
Das würde ich nicht. Unbedachtes Handeln hatte mich in diese Situation gebracht, aber es würde mich nicht wieder herausholen. Doch ich musste etwas versuchen, ich musste herausfinden, wie ich meine Schwester freibekam. Gina wüsste, was zu tun wäre, Gina wusste immer, was zu tun war. Meine beste Freundin war ein Genie, wenn es darum ging, Pläne zu machen, egal, um was es sich handelte, doch sie war tot. Ihre Sehnsucht nach Freiheit und Gefahr, abseits von ihrem langweiligen Leben als angehende Hausfrau, hatte sie dazu getrieben, wegzulaufen, und dann war sie in ein Gefahrengebiet gelaufen, um den Adrenalinkick zu spüren, und ich war ihr hinterhergerannt, doch hatte ich sie nicht erreichen können, bevor sie falsch auftrag und die Bombe auslöste. Ich hatte mitangesehen, wie meine beste Freundin explodierte, wie ihr Körper auseinandergerissen wurde von der Wucht der Bombe, ich hatte ihrer Familie die Nachricht überbracht und ein Teil von mir war mit ihr gestorben, der Teil, der Neugierde, Abendteuerlust und Lebensfreude gewesen war, bis alles eintönig und grau war.
>Ist gut<, erwiderte ich lediglich. >Ruh dich aus.<
>Ich hab dich lieb, Nila<, sagte Rahel, als müsse sie wieder gutmachen, dass sie Ben mir vorzog, als müsse sie sich somit dafür entschuldigen. Doch das musste sie nicht. Denn letztendlich war ich Schuld an ihrer Situation, nicht ihr Mann, ich hatte jemanden getötet, und ich sollte dafür zahlen, nicht sie. Rahel brach die Verbindung ab, als ob sie verhindern wollte, dass ich es erwiderte, und ich blieb alleine zurück.
Ich stand auf, ging langsam und bedächtig zur Tür. Das war nicht unüberlegt, aber es war auch nicht gerade gescheit, doch ich musste es versuchen. Ich umwickelte meine Hände mit dem Stoff der Ärmel, sodass sie geschützt waren, und fing an, mit den Handballen gegen die Tür zu hämmern.
Ich hörte wütende Laute von der anderen Seite und rief mir eilig den alten Mann ins Gedächtnis, den ich gesehen hatte. Schütteres graues Haar, schwarze Augen, Falten, ein Gesicht, das trotz des sichtbar hohen Alters Eindruck hinterließ. Ich stellte mir vor, wie der Bart an meinem Gesicht kratzte, wie meine Augenbrauen sich in mein Sichtfeld schoben, wenn ich sie zusammenschob und wie sich meine eingefallenen Wangen wohl anfühlen mochten. Als die Tür mit dem Code geöffnet wurde, sah ich meinem Gegenüber als alter Mann entgegen.
"Ihr habt mich hier eingesperrt!", beschwerte ich mich, wissend, dass die Wörter für ihn verdreht sein würden, als wäre ich tatsächlich der alte Mann, der zu ihm sprach. Meine Stimme, die für mich klang wie immer, musste sich für ihn jetzt tief und keck anhören, ganz wie die des Mannes. "Wo ist Reva? Habt ihr sie etwa freigelassenen? Ihr Idioten! Ihr wisst doch, sie kann sich verstellen!"
Die Wache wechselte einen verwirrten Blick mit seinem Begleiter. Es funktionierte, sie waren sich nicht sicher, ob ich wirklich nicht der Mann war. "Wird das noch was?", fuhr ich sie wütend an. "Holt sie! Ihr müsst sie fangen!"
Mein Hals fühlte sich rau und kratzig an, was daran lag, dass ich zuvor lange nicht mehr viel gesprochen hatte, doch es lohnte sich. Einer der Männer murmelte eine flüchtige Entschuldigung und eilte von Dannen, wahrscheinlich, um die anderen zu benachrichtigen, die hier noch herumstreunten. Die andere Wache blieb noch unschlüssig stehen und sah mich an. Ich rief mir das Bild des alten Mannes genauer vor die Augen, seine runzlige Haut, die Altersflecken an seinem Hals und die Adern, die die schwache, faltige Haut zerlegten.
"Es tut mir leid, Sir", sagte die Wache schnell, endlich überzeugt.
"Das ist auch das Mindeste!", beschwerte ich mich, trat aus dem Zimmer ind en Gang, als sei es selbstverständlich. Mit eiligen Schritten durchmaß ich den Gang, an dessem Ende sich mein Zimmer befand, ich musste hier so schnell wie möglich raus. Sobald ich mich auf etwas anderes als das Bildnis des alten Mannes konzentrieren konnte, würde ich Rahel alarmieren, dass ich frei war und sie sich bereit halten sollte, mit mir zu fliehen, sobald ich sie erreicht hatte. Ich könnte mich irgendwo hier mit einem Gewehr oder einer anderen Waffen rüsten, und wenn es nach Plan lief, war ich bei Rahel, bevor mein Betrug aufflog. Ich könnte ihre Wachen täuschen und Rahel wegführen, mit der Ausrede, Reva sei auf freiem Fuß und würde sie befreien wollen.
Als ich vor der Tür ankam, ergab sich das erste Problem. Der Code war mir ebenso unbekannt wie noch zuvor, und auch wenn die Wachen mir nicht die Hellsten zu sein schienen, würden sie doch etwas bemerken, wenn ich mich vertippte.
Ich trat an das Tastenfeld und nahm es in Augenschein. 1 und 4 am Anfang und 7 und 2 am Ende, erinnerte ich mich. Fünf Ziffern in der Mitte, wenn ich mich nicht irrte. Wo waren die Zahlen eingegeben worden, welche Tasten hatte Pjedro  gedrückt? Ich war mir ziemlich sicher, dass die dritte Zahl etwas in der Mitte gewesen war,  vielleicht die Zwei, vielleicht auch die Fünf, die Acht oder die Null. Alles konnte sein, doch wusste ich nicht, welche es war. Aber ich war ein alter Mann, mein Gedächtnis war nicht mehr auf dem Hochstand und meine Finger zittrig, ich könnte mich vertippen, ich könnte etwas vertauschen.
148934672 tippte ich, schnell und sicher, als wüsste ich, was der Code wäre. Ein Brummen ertönte, ein rotes Lämpchen blinkte auf und das Tastenfeld vibrierte. Der falsche Code. Ein kalter, langer Lauf wurde mir an den Hinterkopf gedrückt und ich verlor das Bild des Mannes aus den Augen, meine Konzentration brach zusammen und alles, an was ich denken konnte, war Rahel, unter der der Stein brach und die dem Rand der Klippe immer näher kam.
Die Tür wurde von der anderen Seite aufgerissen, und der Mann blickte mir entgegen, neben sich den Beifahrer mit dem harten Mund und Pjedro und meine andere Wache, die Reva hatte fangen sollen. Der Lauf der Pistole drückte unangenehm gegen meine Burka.
"Oh, sie hat mich vollkommen überzeugt", sagte der alte Mann erfreut, klatschte begeistert in die Hände. "Ja, ja, sie ist gut, sie ist perfekt."
"Die Kleine hat Bohrak umgebracht!", knurrte der Beifahrer. "Sie ist nicht perfekt."
Der alte Mann warf ihm einen höchst missbilligenden Blick zu. "Ich habe ihre Tat ebenso wenig vergessen wie du, Sergio, aber sie wird jetzt für uns arbeiten. Sie hat es geschafft, Doug und Mustaf zu überlisten, obwohl die genau wussten, wen sie eingesperrt haben, sie ist ein Wunder."
Es war eine Falle gewesen, und ich war hineingetappt, unwissend, naiv. Gerne würde ich sagen, dass meine Sorge um Rahel mich geblendet hatte, aber das wäre eine Lüge. Diese Sorge hätte mich misstrauischer machen sollen, vorsichtiger. Ich hatte Wut gespürt, als Rahel sich in dieser Situation Sorgen um mich machte, dass sie sich die Schuld gab, und jetzt wollte ich noch etwas spüren, ich wollte fühlen, wie Angst meinen Körper zittern ließ, wie ich von Hoffnung getrogen wurde. Aber jetzt, wo ich dem Mann in die klugen Augen sah, merkte ich, dass ich blind gewesen war. Ginas Tod hatte mir die Lebensfreude, die Neugierde, die Abendteuerlust genommen, Nannys Tod hatte meine Hoffnung, meinen Glaube an das Gute und alles Positive in mir zerstört und meine Lebensbedingungen hatten den Rest dazu getan. Ich war kein Mensch, der fühlte, ich war ein emotionsloses Wrack, und dieses Wrack würde tun, was es konnte, um seine Schwester zu befreien, koste es, was es wolle.
Vielleicht war ich nicht schuldig an den Begebenheiten, die zum Mord des Mannes, der wohl Bohrak geheißen hatte, geführt hatte, doch ich war es gewesen, die ihm das Messer in den Hals rammte. Und selbst wenn Rahel und Gina gesagt hätten, dass ich nicht anders hätte handeln können, dass ich es hatte tun müssen, ich hatte einen Menschen getötet und ich würde weitere töten, um mich und Rahel zu schützen. Nicht, wenn es sich verhindern ließe, doch ich würde nicht zögern, ich hatte keine Skrupel oder Angst, etwas dafür zu tun, um mein Leben ein Stück besser zu machen.
"Ich bin perfekt", brummte ich an Sergio gewandt, straffte meine Schultern, was unter der Burka wohl kaum sichtbar war, drehte mich um und ging ungefragt zurück zu meinem Zimmer.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt