Kapitel 21)

283 12 6
                                    

Zu Lakes Frustration gewährte mir meine allem Anschein nach schwierige Vergangenheit einen Freifahrtschein dafür, anzuziehen was ich wollte. Die Benedicts wussten, dass ich aus anderen Kulturkreisen kam und hatten mir deshalb freie Auswahl zwischen Vollbedeckung, Schleier, langärmlig oder kurz überlassen. Auch hatte Victor, der am besten über die Geschichte mit Bohrak Bescheid wusste, Diamond, Sky und Trace, die für meinen Klamottenkauf zuständig waren, eingeschärft, dass ich mit meinem Kleidungsstil nicht die Annahme zulassen wolle, ich wäre an irgendeiner Art Beziehungen interessiert.
Als ich also in einer schwarzen Jeans, einem schlichten, langärmligen, dunkelgrünen Shirt und schwarzen Wildlederstiefeln, die für jegliche sportliche Aktivitäten im Trockenen geeignet waren und ziemlich an Kampfstiefel erinnerte (Diamond hatte sie ausgesucht und keinen Widerspruch geduldet) aus Victors schwarzem Mercedes mit den verspiegelten Fensterscheiben stieg, fing sie an, sich halblaut zu beschweren, wobei sie immer wieder in ihre Muttersprache verfiel, sodass man nur die Hälfte verstehen konnte. Es ließ sich allerdings aus dem englischen Anteil schließen, dass man sie zum ersten Familientreffen in sehr viel festlichere Kleidung gesteckt hatte.
„Tiger!", rief eine zierliche Frau mittleren Alters mit einem strahlenden, mütterlichen Lächeln und eilte aus dem Haus, schnurstracks an William und Lake vorbei, die sich an Williams Motorrad herumdrückten und Zeit schindeten, und direkt auf mich zu.
Karla. Irgendwie allwissend über Gefühle, Vergangenheit und Zukunft, genau wie eine ihrer Schwestern. Skilehrerin. Zeigte die typische amerikanische Verklemmtheit in Bestleistung, wie Gina immer gespottet hatte. Rahel hatte dagegen protestiert und gemeint, dass sie sich nur Sorgen um ihre Söhne machen würde – meine Schwester hatte jegliche Mutter verteidigt, die überhaupt irgendetwas für ihre Kinder übrig hatte und in einer unserer nächtlichen Diskussionsrunden zu Sprache kam.
Karla drückte mich mit erstaunlicher Kraft an ihre Brust, was Lakes Schimpftiraden unterbrach. Jetzt waren wir in ihren Augen also quitt. Als Karla sich von mir löste, war ihr Blick verklärt und ihre Hände zitterten ein wenig. Victor war angespannt und sah seine Mutter mit einer abwartenden Argwohn an, die nichts mit Neugierde zu tun hatte.
„Ich fühle nichts", wisperte Karla und blinzelte. Ihr Blick klammerte sich an ihrem drittältesten Sohn fest, aber sie schien ihn nicht wirklich wahrnehmen zu können. Ihre Arme schwebten auf halber Höhe in der Luft, als wolle sie die Balance halten, ihre Finger suchten verzweifelte nach Halt. „Ich kann nichts sehen."
Victor nahm seine Mutter am Unterarm und hielt sie solange, bis sie ihr Gleichgewicht und ihre Sicht wiedergefunden hatte. Karla sah mich an, taumelte und neigte mit einer Mischung aus Verwirrung und Entsetzung den Kopf zur Seite.
„Was ist passiert?", fragte der große, breitschultrige Saul, der aus dem Haus stürmte. Dicht hinter ihm folgten Xavier, Zed und Uriel, Crystal und Sky.
Karla ließ zu, dass Saul sie stützte, aber als er versuchte, sie schützend in den Arm zu nehmen, wehrte sie sich vehement. Ihre Schultern richteten sich auf und sie fand die Fassung wieder, aber in ihren Augen blieb eine Spur dieser verhängnisvollen Leere zurück.
„Ich... es tut mir so unendlich leid, Tiger", hauchte Karla und richtete ihren dunklen Blick wieder auf mich, der voller ziellosen Mitleids war.
„Was tut dir leid?", fragte Xavier alarmiert, ganz der Heiler.
Seine Mutter schüttelte den Kopf, tastete kurz über Sauls Schultern in dem marineblauen Anzug, bevor sie entschlossen ein paar Schritte auf das Haus zumachte, aus dem sie so eben noch mit weit mehr Euphorie gekommen war.
„Karla!", rief Saul besorgt und holte seine Frau mit wenigen, großen Schritten ein. „Was ist los, Liebling?"
Sie presste die Lippen aufeinander. „Ich sehe immer etwas. Egal, wen oder was ich berühre, ob ich es darauf abziele oder ob ich es vermeiden möchte. Ich bekomme immer Einblicke in den Menschen, ganz gleich, wie stark die Abwehr ist, bei ihm oder bei mir. Emotionen, Erinnerungsfetzen, ein flaues Gefühl im Bauch oder bedeutende, ausschlaggebende Szenen der Zukunft. Aber da war nichts, Saul. Da war gar nichts."
Es war offensichtlich, dass Saul seiner Frau helfen wollte, aber nicht ganz nachvollziehen konnte, was das Entsetzen in ihren Augen ausgelöst hatte. „Das kommt zum ersten Mal vor?", fragte er vorsichtig.
„Nicht zum ersten Mal. Nie, Saul. Niemals. Es war, als wäre da nichts, was ich sehen könnte. Ich... ich habe meine Großmutter berührt, als sie tot war. Ich wusste damals noch nicht, was es bedeutete. Das ist mehrere Jahrzehnte her. Da ist kein schwarzes Loch. Da ist einfach gar nichts."
„Und so hat Tiger auch ausgesehen?" Saul war nicht so geschockt wie seine Frau, aber allmählich sah man ihm an, dass er verstand, wieso sie so reagiert hatte – oder es zumindest versuchte. „Aber das kann doch verschiedene Gründe haben, oder nicht?"
Karla schüttelte den Kopf. „Der Grund ist simpel. So simpel." Sie sah mich noch einmal an, als würde es ihr leidtun, dass sie mich so bloßgestellt hatte, doch sie hielt es für besser, ihre Familie zu informieren. Damit sie alle auf mich aufpassen konnten. Victors Körper an meiner Seite war verspannt, sein Gesicht steinhart.
„Was ist der Grund?", fragte er, und zum ersten Mal hörte ich eine Spur von Ungeduld in seiner Stimme.
Es gab einen Grund, und es gab eine einzige Sache, die ich jetzt tun konnte, tun musste. Karla konnte nicht erklären, was sie gespürt oder gesehen hatte, aber das musste sie auch nicht. Sie müsste nur Zed zu Hilfe ziehen. Das, was Karla durch ihre Umarmung gespürt hatte, das Nichts, war alles, was es von mir für sie gab. Und das durften die Benedicts nicht erfahren. Also war es meine Aufgabe, Karla zum Schweigen zu bringen.
Ich tastete nach Victors Hand, die nahe bei meiner leblos in der Luft hing. Sie war eiskalt, wie immer. Er ließ sich nicht anmerken, was er fühlte, vielleicht registrierte er meine Berührung nicht einmal, aber sein Körper reagierte. Seine Finger schlossen sich um meine und gaben mir die nötige Kraft, die ich brauchte.
Normalerweise änderte ich mein Aussehen. Das war alles, was es bedurfte, um einer vorbeiziehenden Patrouille zu entgehen. Heute musste ich mein Aussehen beibehalten und nur mein Inneres ändern. Nur für einen Moment, nur, um die Leere, die Karla gefühlt hatte, mit etwas auszufüllen.
Gedanken, Bilder, Gerüche und Gefühle rauschten an mir vorbei, als ich mich tief in mein Inneres zurückzog und meinen Geist neu zusammensetzte. Erinnerungen an Menschen, die mir nie etwas bedeutet hatten, die ich nie wieder gesehen hatte, waren meine Puzzlestücke für das, was Karla sehen durfte. Rahels Güte und Ginas Witz, Tjaras Loyalität und Revas Mut. Hunderte von anderen Menschen, als die ich mich getarnt hatte, ihre besten Eigenschaften, ihre schönen und schlechten Erinnerungen, denn kaum eine reichte an die heran, die ich vor der Mutter der Benedicts verbergen musste.
Und dann, als sie Tiger nirgendwo in mir drin finden konnte, berührte ich Karlas Geist von mir aus. Ihre Gabe entlud sich wie ein geladener Blitz über mir, der darauf gewartet hatte, ein Ziel zu finden. Grelle Lichtblitze zuckten durch meine Gedanken und fischten wahllos Erinnerungen und Gefühle heraus, die nicht mir gehört hatten. Sie prallten an Schilden ab, Schilden von normalen Menschen, die nicht alles verbargen.
Als Karlas Blitze erloschen und ich mich von ihr zurückgezogen hatte, war die Leere aus ihrem Blick verschwunden.
Ich ließ Victors Hand los. Mein Herz hämmerte und schwarze Punkte flackerten vor meinen Augen und ich konnte den umstehenden Benedicts ansehen, dass sie genau wussten, dass hier etwas vorgegangen war, doch keiner von ihnen hatte es sehen können, denn sie konnten keine Geister sehen. Und mein Puzzle aus fremden Menschen, die ich zu einem neuen vereint hatte, um Rahel zu schützen, war ein Gespenst.
„Es tut mir leid." Karla war verwirrt und rieb sich über die Augen. „Ich bin etwas übermüdet. Bitte vergesst alles, was ich gerade gesagt habe. Tiger, es ist wunderbar, dich endlich hier zu haben. Vic wartet schon so lange."
Die alte Energie kehrte in sie zurück und ihr Strahlen erschien wieder auf ihren Lippen. Es war echt, das Lächeln, denn sie nahm wirklich an, dass sie nur einen Fehler begangen hatte. Und aus diesem Grund fiel selbst Saul darauf rein, nicht wissend, dass ich mit Hilfe seines unwissenden, dritten Sohnes seine Frau manipuliert hatte.
Aber ich sah Zeds bohrenden Blick. Zed, der die gleiche Gabe wie seine Mutter hatte und das siebte Kind des siebten Kindes war. Ich sah, wie er sich kurz mit Will verständigte, der Gefahr spüren konnte. Und ich sah, wie Will nickte und näher an Lake herantrat, als wolle er sie schützen.
Jedoch merkte ich auch Victor neben mir. Beinahe bedrohlich funkelte er seinen Bruder an und ich wusste, dass es auch ihm nicht entgangen war, wie Zed und William sich sofort nach Karlas merkwürdigem Verhalten mir gegenüber distanziert und forsch verhielten.
Lake schob William entschlossen zur Seite und schoss einen erzürnten Blick auf ihn ab, bevor sie mit geradem Rücken und gerecktem Kinn auf uns zu stolzierte. Sie baute sich neben uns auf, vergrub die Hände in den Taschen ihrer abgewetzten Lederjacke und schwieg verbissen. Sie hatte soeben das Lager gewechselt. Nachdem William sie vor mir gewarnt hatte, ihr Freund, ihr Seelenspiegel, jemand, der Gefahr spüren konnte, war sie zu uns rübergekommen.
Ob es Lakes Freundschaft zu Victor war, die eine stärkere Verbindung heraufbeschwor als zu ihrem Freund, oder ob es andere Gründe hatte, dass sie sich vor mich stellte anstatt hinter den Bodyguard, es kam mir nur zu Gute. Was auch immer Lakes Geheimnis war, hinter das die Benedicts gekommen waren, es verschaffte ihr eine Sonderposition. Sie würden sich nicht gegen Lake wenden, und solange Lake sich nicht gegen mich wandte, war Victor Benedict meinen Plänen, meine Schwester vor dem Tod zu retten, schutzlos ausgeliefert. So schutzlos ein ausgebildeter, über manipulative Fähigkeiten verfügender FBI-Agent sein konnte.
Das Haus der Familie Benedict war groß, gemütlich und vollgestopft. Überall lagen Skier, Snowboards, Bücher, Elektronik, leere Pappschachteln, Schuhe, Football-Bälle, Baseball-Schläger und Zeitungen herum. Das Wohnzimmer, das einen direkten Anschluss zur Küche hatte und gleichzeitig als Esszimmer mit einem riesigen, langen Mahagonitisch diente, besaß mehrere Sofas, Sessel und einen großen Flachbildfernseher, der allem Anschein nach gerade von Xavier geräumt wurde. Die Skiläufer waren auf der Zielgerade, als der Bildschirm flimmerte und dann Schwarz wurde. Xavier hatte die Fernbedienung, die er bei seinem übereilten Gang nach draußen, den Karlas Reaktion auf die Leere, die sie bei mir gespürt hatte, verursacht hatte, auf der Fernsehkommode abgelegt hatte, wieder aufgenommen und der Höflichkeit halber das Gerät ausgeschaltet.
Der Tisch war bereits gedeckt, mit großen, weißen Tellern, Weingläsern (auf Lakes Platz stand eine halbleere Bierflasche) und Silberbesteck bedeckt. In der Mitte des Tisches thronte ein misstrauenserweckend aussehendes Brathühnchen mit Gemüse in der braunen Bratensoße und Reis.
Lake fing schon wieder an, etwas auf ihrer harten, abgehackten, schnellen Sprache zu murmeln, in der ihre langen Sätze nur die Hälfte der Wörter zu haben schienen, denn die Wörter an sich waren unendlich lang. Ihr Blick weilte dabei auf dem Essen, dann erblickte sie ihr Bier und wurde ruhig.
„Lake, kannst du bitte aufhören, auf Deutsch zu reden?", jammerte Diamond, die sich mit Trace einen Stuhl teilte und leise mit ihm über etwas geredet hatte, das den Rest der Welt nichts anging.
Lake runzelte die Stirn. „Habe ich schon wieder?"
Trace nickte bestätigend. „Übersetzung, jetzt."
Lake schob ihren Stuhl mit einem lauten Geräusch über den Boden und ließ sich auf die Sitzfläche fallen. Sie wiederholte den Satz, den sie soeben auf Deutsch gesagt hatte, und übersetzte dann nach einigem Zögern ins Englische. Sky, die mit den Nachzüglern langsam hereinkam und auf einem Stuhl neben Zed Station bezog, gab mit einem lautem Husten bekannt, dass Lake log.
„Ich habe gehört, ihr beide wollt umziehen?", fragte Karla, die das Thema von Lake zu mir lenken wollte.
„Die Wohnung ist zu klein", erklärte Victor karg und sah seiner Familie unbeteiligt dabei zu, wie sie sich um den Tisch herum verteilten, während wir noch immer im Eingang standen.
„Seid ihr euch sicher, dass ihr es jetzt tun wollt? Ist es für eine gemeinsame Wohnung nicht schon zu früh?", fragte Karla zögernd. „Wie wäre es, wenn Tiger erst einmal zu Trace und Diamond zieht und ihr der Sache etwas Zeit gebt?"
„Haben wir auch schon angeboten", warf Diamond ein und warf Karla ein Lächeln zu, das andeuten sollte, sie wäre auf ihrer Seite, aber dass wir anderen uns alle gegen sie verschworen hätten. „Aber sie haben abgelehnt und gemeint, sie würden das zusammen tun wollen."
Victor und ich setzten uns stumm auf die letzten verbliebenen Plätze auf der linken Längsseite, neben der am Kopfende sitzenden Phoenix und Uriel, der neben seinem Bruder saß und mit seiner Freundin Tarryn Händchen hielt.
Karla blickte kurz auf die Tischplatte und seufzte darüber, dass ihre Söhne ausgezogen waren und ihre eigenen Entscheidungen trafen – auch Frauen betreffend.
„Lake, Will, seid ihr eigentlich mit eurer Hochzeitsplanung voran gekommen?", fragte sie dann betont munter. Lake, die sich gerade höchst unwillig eine Gabel mit Reis und ein wenig Gemüse in den Mund schob, verschluckte sich, würgte, schluckte, spülte sich das Essen mit dem Rest ihres Bieres runter und atmete dann heftig.
„Welcher Hochzeit?", keuchte sie mit hochrotem Kopf und immer noch schwer atmend. „Will?"
William sah nicht ganz so entsetzt aus wie seine Freundin, aber auch er schien noch nicht in das anstehende Ereignis, das sein Leben verändern sollte, eingeweiht zu sein.
„Wir werden nicht heiraten", sagte er vorsichtig und sah seine Mutter an, als spräche er mit einer Tretmine, die er mit jedem Wort auslösten könnte.
„Ihr werdet nicht heiraten?", wiederholte Karla und lächelte, als würde William nur scherzen. Als ihr Sohn schwieg, verblasste ihr Lächeln.
„Vicki und Tiger auch nicht!", verteidigte Lake ihre ungenaue Zukunftsplanung sofort und warf uns einen flehenden Blick zu, sie nicht zu verraten.
„Die beiden haben auch noch Zeit", erwiderte Karla. „Sie haben sich gerade erst kennengelernt."
„Victor", schnurrte Lake und grinste. „Möchtest du es sagen oder soll ich das für dich übernehmen?"
Victor blickte Lake für einen Moment lang in die Augen, ihr Grinsen wurde breiter und tödlich triumphal und dann blickte der drittälteste Sohn zu seiner Mutter, die ihn ansah, als sei er ihre letzte Hoffnung.
„Nein, wir werden voraussichtlich nicht heiraten", gab Victor bekannt, was eher nach einem Knurren als normalem Reden klang.Die Diskussion, die daraufhin aufbrandete, beanspruchte den Großteil der essenden Gäste. Crystal, Xavier, Sky und Phoenix verteidigten Lake, William, Victor und mich mit brennendem Eifer. Uriel, Tarryn und Yves schienen nichts gegen Heirat zu haben, waren aber auch nicht der Überzeugung, dass sie sein musste. Diamond und Trace standen für die Hochzeit ein, genauso wie Saul und Karla. Zed teilte mein Desinteresse an einer Beteiligung, sah stumm zu und aß. Lake und William fochten an der Front für die freie Zukunft, Victor unterstützte sie aufgrund von Lakes Erpressung ab und an mit knappen Bemerkungen und ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, nicht zu wenig und nicht zu viel zu essen. So viel, dass ich zu Kräften kam, nicht so viel, dass ich meinen Magen überlastete und es wieder ausbrach. Ich versagte.
Als ich aufsprang, um nicht auf den Tisch zu brechen, und in Richtung des Ausganges eilte, wurde die Unterhaltung abrupt beendet.
Ich hörte noch, wie beunruhigtes Gemurmel die Runde machte, dann schlug die Haustür hinter mir zu und ich fiel vor dem Haus ins feuchte Gras, stützte mich mit einer Hand ab und hielt mir mit der anderen so viele Haare wie nur möglich aus dem Gesicht.
Die Galle brannte in meinem Rachen, der Geschmack übertönte alles andere und schwarze Punkte flackerten vor meinen Augen. Meine Finger gruben sich in die aufgeweichte Erde, als eine weitere Übelkeitsattacke meinen Körper nach vorne warf.
Victor kniete sich neben mich ins Gras, nahm mir meine Haare ab und hielt sie mir sorgfältig aus dem Gesicht, während ich schwer atmend da kauerte und darauf wartete, dass mein Magen aufhörte, sich zu rühren.
„Willst du heiraten?", fragte er mich irgendwann sachlich, als ich mich langsam wieder aufrichtete. Ich wischte mir den Mund mit ein paar Grashalmen ab, die ich ausgerissen hatte, blieb aber sitzen, denn ich wusste, dass ich noch nicht genug Kraft hatte, um mich aufzurichten.
„Nein."
Victor ließ meine Haare los und berührte stattdessen sachte meine Hand, und ich fühlte, wie sich die Energie, die ich soeben losgeworden war, wieder auftankte. Ich würde nicht auf ewig nur so leben können, mich von seiner Kraft ernähren, doch wenigstens konnte ich diese nicht auskotzen.
„Was genau sagte der Arzt?", wollte Victor wissen und sah mich im Abendlicht durch zusammengekniffene Augen an. Er hatte warten müssen, als Xavier und ich vom Arzt in den Untersuchungsraum geführt worden waren, weil Xavier sich als mein Hausarzt ausgegeben hatte, der eine zweite Meinung einholen wollte, und Victor weder ein enger Verwandter war noch sich als mein Freund ausweisen konnte. Wie von Xavier zuvor diagnostiziert, litt meine physische Belastbarkeit schwer unter den Verhältnissen, in denen ich die letzten Jahre – mein ganzes Leben sogar – verbracht hatte. Ich hatte eine Blutvergiftung überlebt, die von der Wunde stammte, die ich mir an dem Messer zugezogen hatte, dass meinem ersten Opfer das Leben genommen hatte. Obwohl mein Körper die Viren bekämpft und besiegt hatte, hatten die Krankheitserreger meinen Körper nie ganz verlassen. Ich war unterernährt, der Fettanteil meines Körpers war zu gering und das lange Übernachten auf harten Böden hatte meinem Rücken nicht gut getan. Eine leichte Lungenentzündung hatte sich bei mir festgesetzt, aber sie hatte ihre Symptome noch nicht eingefordert. Dass meine Menstruation noch ausblieb, war keine Überraschung, denn ich hatte nicht genug Körperfett, als dass sie sich in Gang setzten könnte.
Mir wurden wegen anderer Krankheiten, die ich gehabt hatte, während ich im Gefängnis ausharrte und es mir so schlecht ging, dass ich die Veränderung nicht einmal mehr merkte, deren Erreger meinen Körper aber nie ganz verlassen hatten und jeder Zeit wieder angreifen könnten, eine Menge Medikamente verschrieben bekommen, sollte alle zwei Wochen zu einer Vorsorgeuntersuchung kommen und der Arzt hatte mir nahegelegt, Impfungen durchzuführen, die in der Westlichen Welt wohl üblich waren.
„Nichts, was wir nicht schon wussten", erklärte ich trocken.
Es war mir egal, dass ich Missfallen in seinen Augen sehen konnte. Vielleicht war es Sorge, vielleicht etwas anderes, ihm passte es nicht, dass ich meine körperliche Gesundheit mit Füßen trat. Doch wenn ich schwer krank wäre, dann würde ich aufpassen, nur konnte ich ihm nicht sagen, dass meine Fitness für mich sehr wohl viel bedeutete – sie war vielleicht eines Tages der Grund, das Rahel überlebte.
Es war mir egal, dass ich so keine Verbindung zu ihm aufbauen konnte. Es sollte mir nicht egal sein, doch das war es, denn auf der anderen Seite musste es mir egal sein. Ich musste eine Verbindung zu ihm aufbauen, um Rahel zu retten, und zugleich durfte ich ihn nicht an mich heranlassen, denn bald schon würde ich ihn verraten, um meine Schwester zu befreien.
Ich befand mich in einer Zwickmühle, in einer Lage, der ich nicht entweichen konnte. Ich war ein Magnet; mein Pol war sein Gegenstück, und doch stießen wir uns ab. Weil Rahel der andere Magnet war, der zu mir passte, und Rahel brauchte mich.
Also hockte ich neben ihm am Boden, starrte in die heraufziehende Nacht und bereitete mich darauf vor, meine Schwester zu verlieren – auf die eine oder die andere Art und Weise.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt