Kapitel 27)

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Ich konnte Rahel erreichen. Zwar versuchte ich es nicht, doch ich merkte, dass ich, wenn ich es versuchen würde, durchkommen würde. Nanny hatte damals Recht gehabt; mich mit ihm einzulassen, war hochgefährlich. Für mich, für meinen Verstand. Doch sie hatte auch bei einer weiteren Sache Recht gehabt. Es war das einzige, das mir noch helfen konnte, meine Macht zurückzuerlangen.
Ich hatte gedacht, es gäbe keine Heilung mehr. Ich hatte mich damit abgefunden, dass ich schwächer werden würde, je weiter mein Leben voranschritt. Hatte es in Kauf genommen, denn je schwächer ich war, desto unauffälliger war ich. Ich war unsichtbar, und das war für mich viel wichtiger als Macht.
Doch nun brauchte ich alles, was ich kriegen konnte, um Rahel zu schützen.
Sie sperrten mich ein, so wie schon zuvor. Sperrten mich in einen Raum, ohne Ausweg, ohne Entkommen. Wenn ihr Plan aufging, dann würde ich frei kommen. Dann gäbe es ein Entkommen. Für mich und meine Schwester. Doch dafür würde jemand Anderes hier einsitzen. Weniger lange zwar, denn ihn würden sie sehr bald umbringen, doch trotzdem tauschte ich ein Leben gegen das andere. Rahel war jünger. Von meiner Logik her hatte sie so oder so Vorrechte. Dagegen sprach, dass Victor jemand hatte, der auf ihn wartete. Wenn Victor starb, dann verlor nicht nur er sein Leben, sondern auch mehrere Menschen einen Mann, den sie liebten. Rahel hatte niemanden, der sie liebte, abgesehen von mir. Ihr Mann war tot, unsere Familie hatten wir hinter uns gelassen.
Ich konnte meine Schwester nicht lieben, doch sie war alles, was ich besaß.
Das hatte ich geglaubt. Daran hatte ich festgehalten.
Inzwischen war es mir nicht mehr möglich, mir sicher zu sein, dass sie tatsächlich alles war, was ich hatte.

Das Frühstück, das ich bekam, bestand aus einem Linseneintopf. Er wurde kalt gereicht, in einer kleinen Schale. Linsen waren gut, daran konnte ich mich von Larsas Vortrag noch erinnern. Sie waren proteinreich und hatten genügend Kohlenhydrate, ohne dass es zu viele waren.
Der Tag schritt in dem Zimmer voran. Die Bücher, mit denen ich mich vor meiner Abreise gebildet hatte, waren weggeräumt worden. Ich wusste nicht, wie spät es war, als sie mich abholten, doch der Eintopf war schon lange leer.
Mustaf und Doug eskortierten mich in den Raum mit dem langen Tisch. Hier war Rahels Mann ermordet worden. Sergio stand an einer Kamera und baute irgendetwas zusammen, während Pjedro und der alte Mann sich unterhielten. Rahel war nicht anwesend.
Ich war seit mehr als einem Tag aus Amerika fort. Sie hatten schon vor Stunden mitbekommen, dass ich weg war. Sie mussten ausharren, warten, bis wir uns meldeten. Wenn die Benedicts übereilt Entscheidungen trafen, wäre es kontraproduktiv für mein Vorhaben, Rahel aus diesem Loch herauszubekommen.
"Wir werden ein Video von dir aufnehmen und es ihnen zusenden", erklärte der alte Mann, als ich auch nach längerem Zusehen nicht fragte, was sie tun würden. "Du wirst nicht sprechen, sondern einfach nur dasitzen. Kannst du das?"
Auf diese Frage wollte er gar keine Antwort haben. Und ich gab ihm keine.
Doug drückte mich auf einen Stuhl, sodass ich direkt in die Kamera blickte. Um die Drohung realistischer zu machen, hätten sie vielleicht noch ein paar Tage warten sollen. Den Benedicts vor Augen führen, dass ich wirklich, endgültig weg war. Warten, bis sie die Umgebung abgesucht hatten und das Gefühl kennengelernt hatten, das einen beschlich, wenn man etwas Wichtiges verloren hatte. Dann erst hätten sie mit der Drohung herausrücken sollen, denn dann hätten sie die Benedicts viel leichter ködern können.
Entweder also, sie waren sich gegen ihrer vorigen Behauptung doch ziemlich sicher, dass Victor sich für mich opfern würde, oder sie hatten wenig Erfahrung mit solchen Angelegenheiten gehabt.
Mustaf löste Sergio an der Kamera ab, welcher zu mir kam. In seiner linken Hand hielt er lässig ein gebogenes, scharfes Messer mit gezackter Schneide. Sergio ging vor mir in die Hocke, sodass wir uns auf einer Augenhöhe befanden.
"Du kannst dich noch daran erinnern, was mit dem Mann deiner Schwester passiert ist, als du dich das letzte Mal verweigert hast, uns zu unterstützen?", fragte er. Ich wies nicht darauf hin, dass ich mich keinesfalls verweigert hatte, sondern einfach nicht schnell genug gearbeitet hatte.
Sergio zog die Augenbrauen abwartend hoch, als ich nicht antwortete. Ein knappes Nicken meinerseits war alles, was er als Reaktion bekam, und er begnügte sich damit.
"Spiel heute mit, oder es wird so weiter gehen." Er zeigte mir das Messer. "Wie du sicher weißt, ist eine Erpressung nicht real, solange man nicht zeigt, dass man wirklich bereit ist, das nötige zu tun. Wir müssen deinem Freund zeigen, dass es uns ernst ist."
Warum er mir das erklärte und mich nicht einfach mit dem Messer angriff, verstand ich nicht. Vielleicht war es auch nicht wichtig. Heute würde ich verletzt werden. Ich kannte Schmerz. Ich kannte mich damit aus, geschlagen zu werden, misshandelt zu werden. Ich war lange nicht mehr physisch verletzt worden, heute war es wieder so weit.
Ich hatte keine Angst vor Schmerz.
Sergio nickte zufrieden und erhob sich aus der Hocke. Der alte Mann erhob seine Stimme. "Seid ihr bereit?"
Rahel war in dem Haus irgendwo am Rand von Kabul, in dem sie zuvor mit ihrem Mann eingesperrt gewesen war. Nun war sie alleine. Ich saß hier auf einem Stuhl, wieder in Gefangenschaft, wartete auf erneuten Schmerz, und alles für sie.
"Die Kamera läuft", verkündete Mustaf. Ein rotes Licht tauchte am obersten Rand der schwarzen Kamera auf. Es blinkte nicht, sondern leuchtete durchgehend.
Sergio winkte mit dem Messer in Richtung Kamera. Sein verkniffener Mund verzog sich zu einem schmalen, freudlosen Lächeln. Er wechselte von Persisch zu Englisch, als er anfing zu sprechen. "Wie Sie sehen, haben wir etwas, das Sie verloren haben."
Sergio deutete mit dem Messer auf mich. Ich starrte unverwandt auf das rote Licht, achtete nicht auf die Waffe, mit der Sergio gefährlich nahe an meinem Gesicht herumfuchtelte.
"Sie wollen Tiger vermutlich in Sicherheit wissen."
Sergio drückte mir die Schneide des Messers ans Kinn. "Nun, Sie könnten Tigers Sicherheit gewährleisten."
Er drehte die Spitze in meinem Fleisch, ohne mich jedoch zu verletzen. Noch nicht. Es würde kommen. Vielleicht sollte ich Angst zeigen, doch ich wusste, schlimmer noch als die Ausdruckslosigkeit wäre gefälschte Angst. Also ließ ich es bleiben.
"Sie kommen ohne Waffen, ohne Rückendeckung, alleine. Wenn Sie uns hintergehen, sterben Tiger und ihre Schwester. Sie liefern sich uns aus, und wir lassen Tiger frei."
Wie häufig sie so etwas wohl schon durchgezogen hatten? Es war nicht geübt. Sie hatten Dinge vergessen, übersehen, sie vertrauten auf mein Wort. Sie hatten daran gedacht, dass ich sie betrügen könnte, doch sie vertrauten darauf, dass Rahel mir zu wichtig war, als dass ich sie riskieren könnte.
Sergio zog die scharfe Seite der Klinge an meinem Kiefer entlang. Ich spürte ein Brennen, ein Ziehen, dann war es vorbei. Etwas Warmes lief mir den Hals hinab. "Diese Wunde wird keine Narben hinterlassen", verkündete derjenige, der mir die Verletzung zugeführt hatte. "Aber falls Sie Tigers Leben riskieren und sich nicht innerhalb der nächsten sieben Tage hier blicken lassen, wird Tiger Narben davontragen. Oder sie wird ihr Leben verlieren. Es liegt in Ihrer Hand."
Die Luft, die an mein offendarliegendes Fleisch drang, fühlte sich eiskalt an. Große Schmerzen hatte ich nicht. Ich hatte schon weit Schlimmeres durchgestanden. Mustaf stellte die Kamera noch nicht auf Aus. Sergio und er blickten zu mir, als erwarteten sie, dass ich etwas sagen würde. Dass ich irgendwie reagieren würde. Dass ich mir anmerken ließ, dass sie mich wirklich verletzt hatten, nicht nur so getan.
Ich tat nichts. Vielleicht war es besser so. Wenn Victor dachte, ich reagierte nicht auf den Schnitt, weil ich schlimmere Schmerzen aus meiner Vergangenheit gewöhnt war, dürfte es ein zusätzlicher Ansporn sein, mich diesen Schmerz nicht noch einmal durchleben zu lassen.
Mustaf stellte die Kamera aus und Sergio trat mit seinem Messer von mir weg. Das Blut lief noch immer meinen Hals hinab, aber ich wusste, sie hatten mich nicht wirklich verletzt. Der Kiefer war ein Muskel, den sie noch nicht einmal berührt hatten. Sie hatten keine lebenswichtigen Organe verletzt, keine Hauptschlagader aufgeschlitzt oder sonst etwas getan, das mein Leben in Gefahr bringen könnte. Dieser Schnitt würde verheilen und nichts zurücklassen, anders als viele andere Wunden, die meinen Körper einst bedeckt hatten und nun zu Narben zusammengewachsen waren.
"Wird er kommen?", fragte der alte Mann mich.
So sicher, dass ihre Vorgehensweise richtig gewesen war, waren sie sich also nicht. Sie fragten mich, weil sie mir zutrauten, dass ich Victor genug kannte, um einzuschätzen, ob er sich nach einer solchen Drohung ausliefern würde oder nicht.
Ich nickte.
Victor würde kommen und ich würde freikommen.
"Solange dein Freund noch nicht hier ist, wirst du uns weiterhin bei anderen Missionen behilflich sein", erklärte Pjedro.
Ich hätte es mir denken können. Sie würden sich aus jeder Minute meiner Anwesenheit einen Nutzen ziehen. Sie waren nicht dumm und auch nicht verschwenderisch. Das bedeutete, ich würde Rahel noch mehr zu Schulden kommen lassen, bis wir beide aus diesem Loch herauskamen.
"Deine Arbeit mit Mara Andelier war enttäuschend", mischte Sergio sich ein und stellte sich neben Pjedro. "Wir hoffen, dass du dir den Tod des Mannes deiner Schwester eine Lehre hast sein lassen. Wenn du das nächste Mal versagst, leidet deine Schwester, bevor Victor Benedict überhaupt kommen kann."
Rahel litt ohnehin. Rahel litt, weil ich nicht schnell genug gearbeitet hatte. Und unter Schuld würde meine kleine süße Schwester deutlich länger leiden, als wenn sie geschlagen wurde. Für Rahel waren psychische Verletzungen schon immer schlimmer gewesen als physische, und dabei tat sich Schuld besonders hervor.
"Der amerikanische Botschafter in Afghanistan hat zwei Kinder. Du wirst dich an ihn ranhängen und ihn von dir überzeugen. Das Prinzip ist das gleiche wie beim letzten Mal. Nur diesmal solltest du es besser nicht vermasseln."
"Wie alt ist er?"
Der alte Mann winkte Sergio zu und signalisierte ihm, dass er von nun an übernehmen würde. Ich saß noch immer auf dem Stuhl, vor der Kamera. Könnte ich Angst fühlen, dann würde ich diese Situation als bedrohlich empfinden. Mustaf, Sergio, Doug, Pjedro und der alte Mann standen alle um mich herum im Raum. Ich war die einzige Frau, ich saß auf einem Stuhl und war unbewaffnet. Aber ich wusste, sie würden mir nichts tun. Sie brauchten mich.
"Liam ist 23, Joseph ist 19. Du wirst ihn diesmal ohne eine Freundin kriegen müssen. Es gibt niemanden, der dir etwas über ihn erzählen wird wie letzets Mal."
Ich schwieg, wissend, dass ich Informationen über die Brüder erhalten würde. Diesmal gab es vielleicht keinen Ausweg. Diesmal war es kein wütendes Mädchen, das ich in die Arme der Benedicts jagen konnte, damit diese sich ihrer annahmen. Diesmal musste ich mich selbst darum kümmern. Vielleicht waren es schlechte Menschen. Nicht, dass Liam oder Joseph den Tod verdient hätten, aber vielleicht konnte ich die Last der Schuld, die ich auf Rahels Schultern legen würde, erleichtern können. Doch wenn es nette Jungs von Nebenan waren, dann musste ich meiner Schwester noch mehr antun.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt