„Reva? Bist du das?", fragte Sergios verzehrte Stimme durch das Telefon.
Meine Kehle war trocken und zog sich zusammen, doch ich wusste, was ich zu tun hatte. „Ja. Ich habe den Benedict so weit. Ich weiß, wie ihr ihn dran kriegt."
Kurz raschelte es am anderen Ende der Leitung, dann wurde das Gerät offenbar auf Lautsprecher gestellt, denn ich vernahm deutlich mehr Hintergrundgeräusche.
„Na dann, erkläre uns deinen Plan", schnurrte Doug von etwas weiter weg.
Ich blickte schnell zu Victor, der am Küchentisch über seine Arbeit gebeugt saß und mir nur ein halbes Ohr schenkte. Er konnte mich sowieso nicht verstehen, denn er hatte mich nicht angelogen, er konnte wirklich kein Persisch.
„Ihr holt mich morgen hier ab. Nehmt mich mit nach Afghanistan. Lasst es aussehen, als wäre ich gefangen genommen worden. Stellt ein paar Tage später eine Forderung. Er wird kommen, ich habe ihn soweit. Er wird alles tun, um mich zu retten."
„Bist du dir da sicher?", hakte Sergio nach.
Victor warf mir einen kurzen Blick zu und ich schenkte ihm als Erwiderung ein knappes Nicken. „Ja. Er liebt mich. Er wird kommen."
Lügen war meine Art, die Wahrheit zu sagen. Es war glaubwürdiger, wenn ich log. Die Wahrheit zu sagen, glaubte man mir weniger, als wenn ich einem die dreisteste Lüge auf die Nase band. Ich konnte meine Geschichten so darstellen, dass sich die Menschen, die sich belogen geglaubt hatten, am Ende dafür schämten, jemals an mir gezweifelt zu haben.
Sowohl Doug als auch Sergio war klar, dass man mir mit weiteren Drohungen keine Reaktion entlocken konnte, also legte einer von ihnen auf. Nur Sekunden später brummte mein Handy und zeigte mir eine Nachricht an. Sie wollten wissen, wo sie mich um wie viel Uhr abholen sollten.
„Um wie viel Uhr können wir morgen umziehen?", fragte ich Victor, mein Handy in der Hand, bereit, ihnen eine Antwort zu erteilen.
„Der Wagen, der die Sachen rüber bringen soll, kommt um 9 Uhr", erklärte er und tippte mit einem Kugelschreiber abwesend auf den Tisch. „Wir müssen sie noch einpacken. Gegen Mittag sind die Kisten im Haus. Möbel lassen wir nachliefern."
Morgen Nachmittag würde ich von Rahels Geiselnehmern abgeholt werden und zurückgebracht. Zurück nach Afghanistan, wo ich schon so viel Leid erfahren hatte. Wo meine Schwester wegen meiner Unfähigkeit ihren Mann verloren hatte. Sie war noch zu jung um so etwas erfahren zu müssen, diesen Schmerz spüren zu müssen.
„Hast du mit ihnen gesprochen?", wollte er wissen. Sein Plan war wackelig, risikoreich und beruhte auf zu vielen Vermutungen. Doch einen anderen hatten wir nicht. Victor traute mir soweit, dass er mich in den Plan einband, und ich wusste, er würde meiner Schwester helfen, solange er konnte. Doch trotzdem fiel es uns beiden mehr als schwer, sich auf den anderen zu verlassen. Er hatte mich aus dem Knast geholt, weil er meine Stärke brauchte, und ich hatte ihn angelogen wo es nur ging. Und nun hingen unser beider Leben voneinander ab.Das biblische letzte Abendmahl nahm ich bei Trace und Diamond ein. Lake und Will waren ebenfalls da, sonst jedoch niemand. Weder Victor noch ich hatten das Bedürfnis, die verbleibende Zeit alleine miteinander zu verbringen, und Diamond hatte darauf bestanden, dass ich sie noch einmal besuchte. Lakes spöttischen Kommentar, dass es doch beunruhigend sei, wie selbst die optimistische Diamond mich zur Verabschiedung einlud, übergingen wir.
Lake und Victor kamen später, denn Lake hatte das ihr von ihm aufgezwungene Lauftraining auf den Abend verschoben. Während Trace sich an das Kochen von Pfannkuchen machte (Lake hatte ihm einen Zettel mit bissigen Kommentaren hinterlegt, weil sie nicht dabei sein konnte, um sie verlauten zu lassen) setzte Diamond sich mit mir auf die Couch, vor den Fernseher.
„Was ist dein Lieblingsfilm?", fragte sie mich und beobachtete Trace misstrauisch beim Kochen.
„Ich habe keinen", antwortete ich. Wieso genau sie vorhatte, mit mir einen Film zu gucken, verstand ich nicht. Vielleicht wollte sie mich von dem Bevorstehenden ablenken.
„Keinen? Gar nicht? Klasse."
Sie strahlte, als wäre es etwas Gutes, dass ich nicht einmal einen Lieblingsfilm besaß. Vielleicht war es ja auch etwas Gutes. Woher sollte ich das wissen.
„Wir gucken Interstellar."
„Wieso?"
Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Interessiert dich das wirklich?"
Eine solch schroffe Reaktion hätte ich nicht von jemandem erwartet, der als Streitschlichterin arbeitete. Laut dem, was ich aus zusammenhangslosen Unterhaltungen der Benedicts gezogen hatte, übte Lake keine Macht über Menschen aus, die ihr etwas bedeuteten, ohne dass sie es wollte. Und trotzdem stand Diamond offensichtlich unter ihrem Einfluss.
Wie dem auch sei, Diamond hatte recht. Wirklich interessieren konnte es mich nicht. Von ihr drohte mir keine Gefahr, das wusste ich, demnach war es für Rahel vollkommen egal, was Diamond im Hinterkopf hatte, als sie diesen Film vorschlug.
Außerdem wurde es klar, nachdem wir auch nur eine halbe Stunde geguckt hatten. Es war eine eindrucksvolle Darstellung. Die Art, wie in diesem Film mit Zeit umgegangen wurde, dem menschlichen Sein, dem Alter. Auch wenn es die Gedankengänge, die Diamond gehabt haben musste, als sie auf die Idee kam, mir diesen Film zu zeigen, sehr komplex und verworren gewesen sein mussten, verstand ich doch, was sie mir damit sagen wollte.
Da draußen gab es mehr. Es gab viel mehr, viele Galaxien, viele Zeiträume, viel Leben. Und doch kam die Hauptperson des Filmes am Ende zu seiner Tochter zurück, die nun 55 Jahre älter war als er selbst. Er hatte ihr versprochen, dass er eines Tages zu ihr zurückkommen würde, und er tat es. Er hielt sein Versprechen. Er kam zurück zu denen, die er liebte.Beim Abendessen wurde wenig geredet. Niemand wusste, was er sagen sollte. Der Plan könnte uns allen das Leben kosten, niemand wollte über Alltägliches reden. Lake hatte ihre Witze eingestellt. Trace hatte aufgehört, sie zu necken. Victor und Diamond schwiegen und ich konzentrierte mich auf mein Essen. Ich zimmerte Rahel eine Treppe in die Klippe. Das Seil war mir zu unsicher. Ich brauchte eine Stütze, ich brauche eine Absicherung. Das Seil alleine, auch wenn Victor es mit mir hielt, würde nicht genügen, vielleicht war es zu wenig. Es war besser, wenn ich ihr einen sicheren Weg in den Stein hieb.
Vielleicht würden Victor und ich Rahel an dem Seil aus dem Abgrund ziehen. Und vielleicht würde ich das Seil loslassen, Victor davon in die Schlucht ziehen lassen und Rahel über die Treppe nach oben kommen lassen.
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Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)
Fanfiction|| Als die Tür hinter mir zufiel, hatte ich zwar den Besuch oder das Angebot, diesen Ort ein für alle Male hinter mir zu lassen, schon wieder aus meinem Kopf verbannt, doch etwas Anderes saß dort fest, klammerte sich mit eiserner Bitterkeit an mein...