Kapitel 26)

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Der Umzug ging ohne weitere Vorfälle von Statten. Der Lieferservice war pünktlich da und wir überließen es Xavier und Crystal, die ihre Hilfe angeboten hatten, die Aufsicht zu führen und fuhren in Victors Auto zum Penthouse, um die Schlüssel zu übernehmen.
Das Haus einrichten würden wir erst später, es ging erst einmal darum, genug Platz für uns beide zu kriegen.
Den ganzen Tag hielt Victor sich dicht bei meiner Seite, als hätte er Angst, dass ich abhauen könnte. Fliehen, ihn verlassen, sein Vertrauen missbrauchen. Doch ich blieb. Nicht, weil ich vertrauenswürdig war. Sondern weil es für Rahel so fürs Erste am besten war.
Wir bezogen ein gemeinsames Haus. Ich hatte schon mit Männern zusammengelebt. Jedes Mal war ich misshandelt worden. Jedes Mal wurde mir gesagt, es sei zu meinem besten. Ich hatte vorgehabt, niemals wieder einen Wohnsitz zu teilen, mit niemandem. Jetzt tat ich es wieder, zu Rahels Schutz, doch es war nicht für lange. Ich würde heute Nachmittag abgeholt werden. Zurück nach Afghanistan. Zurück in meine Heimat.
Rahel würde bald frei sein. Sie würde das Land verlassen, das für sie so viel Schlechtes bereithielt. Sie würde gehen und irgendwann würde sie Ben hinter sich lassen und neu anfangen, ein neues Leben beginnen, noch einmal glücklich werden. Und ich würde alles dafür tun, dass dieses Glück halten würde, solange meine süße kleine Schwester am Leben war.
Der Tag schritt voran, ohne dass ich die Zeit wirklich registrierte. Wir aßen zu Frühstück. Irgendwann zwischendurch zwang ich einen Apfel in mich rein. DIe Sonne stieg und die Sonne war da und die Sonne sank, ich wechselte den Wohnort und ich bereitete mich darauf vor, noch einmal in Gefangenschaft zu gehen.
Mein Leben stand unter keinem guten Stern. Ich wurde von einem Gefängnis in das nächste gestoßen. Für Rahel würde ich es ein letztes Mal durchhalten. Was es diesmal für mich bereithielt, war nicht mehr wichtig. Es war nicht mehr wichtig, ob ich dieses Gefängnis verlassen würde. Es war nicht mehr wichtig, ob ich überleben würde. Es war nicht einmal mehr wichtig, ob ich stehend oder liegend sterben würde, den mein Stolz war mit mir untergegangen.
Wichtig war, dass Rahel fliehen konnte. Dass meine Schwester dem Grauen, das uns zu verfolgen schien, endlich entrinnen konnte.
Und als ich am Nachmittag, der viel zu schnell gekommen war, die Hintertreppe aus meinem neuen Zimmer hinunterschlich, ohne mich von meinem Lebenspartner verabschiedet zu haben, wurde mir bewusst, dass ein Teil von mir, so winzig er auch sein mochte, es wichtig fand, dass auch Victor Benedict aus dieser Situation entkommen konnte.

Kaum, dass ich in den schwarzen SUV stieg, wurde die Tür hinter mir zugezogen. Sergio startete den Wagen und brauste über den Highway davon, weg von meinem neuen Zuhause, dem Zuhause, das ich mit Victor Benedict teilte.
Ich hatte einen kurzen Einblick auf die Welt gehabt, wie sie für mich hätte sein können. Freiheit war es noch nicht gewesen, doch es hätte sie werden können. Irgendwann, vielleicht. Aber wenn meine Freiheit bedeutete, dass ich Rahel aufgeben musste, Rahel, meine kleine süße Schwester, alles, was ich liebte, alles, was ich hatte, dann war diese Freiheit ein Trugbild. Eine Illusion, erzeugt aus dem Schrecken, der mir die Gefühle genommen hatte. Gefühle, die ich für Rahel haben sollte, Gefühle wie Liebe.
Rahel gehörte mein Herz und ich würde sie mit allem beschützen, was ich hatte, doch ich liebte sie nicht. Ich konnte sie nicht lieben. Liebe war ein Privileg, das mir nicht gewährt worden war.
Gefühle waren ein Privileg, das mir nicht gewährt worden war. Etwas für Menschen, die gut waren, die treu waren, die niemals einen Mann umbringen würden, nur um sich selbst zu beschützen.
Ich war kein solcher Mensch. Ich hatte immer daran geglaubt, doch als ich Bohrak erstach, um dem Schmerz zu entkommen, den er für mich bereithielt, hatte ich meine Unschuld verloren - und noch schlimmer, den Glauben an meine Unschuld.
Ich hatte das Privileg der Gefühle nicht verdient und ich wollte es nicht mehr, denn ohne sie war mein Leben deutlich leichter. Aber ich brauchte keine Gefühle, um dieses Leben, dieses leichte, lange Leben, das ich haben könnte, für meine Schwester aufzugeben.

Wir flogen über Madrid nach Kabul zurück. Die Flugtickets waren gebucht, der Flug hob mehr oder weniger pünktlich ab. Sergio trieb uns voran. Doug stellte mir eine Frage nach der anderen, auf die ich nur knappe Antworten gab. Je weniger sie wussten, desto besser, denn dann wurde ich in meiner Vorgehensweise flexibler.
Ich dachte über alles mögliche nach, während wir den langen Rückflug aus den USA antraten. Über Rahel. Über Lake und ihre ewigen Lügen. Über den Film, den Diamond mir gezeigt hatte. Nicht aber über Victor. Ich vermied es, an irgendetwas zu denken, das ich mit ihm verband. Ob es der Kuss gewesen war oder die gemeinsame Zeit, irgendetwas hatte ein Stück meines Inneren aufgetaut, und das Schmelzwasser drohte mich zu ertränken. Das durfte nicht geschehen. Ich hatte von Anfang an gewusst, dass es gefährlich war, für Rahel hatte ich mich darauf eingelassen, und jetzt musste ich die Flut stoppen.
Vielleicht würde der neuerliche Abstand das seine tun. Ich flog nach Afghanistan. Ich in Asien, er in Amerika. Auch wenn mein Plan implizierte, dass die Distanz für Rahels Rettung noch einmal gekürzt wurde, die Zeit, der Abstand, mussten ausreichen, um mich soweit abkühlen zu lassen, dass ich nicht mehr hinfällig wurde.
Sobald Rahel frei war, konnte ich mich damit auseinandersetzen. Nicht jetzt. Nicht vorher. Nicht, bis meine Schwester endlich wieder glücklich Zuhause war, wo auch immer ihr Zuhause sein mochte.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt