Am nächsten Morgen wurde ich vom ersten, einsamen und fahlem Lichtstrahl geweckt, der durch die tiefgraue Wolkendecke dringen konnte. Der kurze Zeiger der großen Uhr über der Tür irrte unschlüssig zwischen der Vier und der Fünf herum, der längere hatte die Sechs knapp überschritten. Lake schlief im Bett am Fenster tief und fest, nachdem sie bis tief in die Nacht hinein gelesen hatte. Ihr Atem ging gleichmäßig, aber ihre Arme zuckten, ihr Kopf drehte sich häufig unruhig von einer Seite auf die andere und ihre Beine fingen alle zehn Minuten an zu strampeln, zu etwa dem gleichen Zeitpunkt, an dem ihr Gesicht nur für wenige Sekunden einen Ausdruck des Entsetzens und des Schmerzes widerspiegelten.
Ich selbst brauchte nicht lange, um aus dem Bett zu kommen. Obwohl kein Bedarf bestand, früh aufzustehen, war es mir nach dem erstmaligen Aufwachen nur selten möglich, wieder einzuschlafen. Jahrelang hatte ich innerhalb weniger Sekunden aufbruchsbereit gewesen sein, und dann durfte keine Müdigkeit meine Glieder oder meinen Geist lähmen. Es war mir ins Blut übergegangen, früh im Morgen aufzuwachen und danach sofort für den Tag bereit zu sein, mit allem Leid, das er zu mir bringen mochte.
So kam es, dass ich schon drei Minuten nach meinem Aufwachen leise das Zimmer verlassen hatte, mit einem den flüchtigen Aufzeichnungen unter den Arm geklemmt, die ich mir zu dem Stoff gemacht hatte, den ich auswendig lernen musste. Das meiste davon war bereits fest in mein Gehirn eingeprägt, doch die Aufzeichnungen mussten verschwinden, bevor jemand sie fand, der Persisch lesen konnte.
Das Haus lag still da, jeder schlief noch, sodass ich mich am Küchentisch niederlassen konnte und ungestört ein letztes Mal die Seiten durchblättern konnte. Mit einem breiten Füller hatte ich die Wörter niedergeschrieben, ordentlich, geordnet, in kurzen, informativen Sätzen. Die dunkelblaue Tinte reihte sich dicht aneinander, sodass ich auf eine Seite eine große Menge Stoff gequetscht hatte. Sauber, leserlich und detailliert.
Obwohl ich das meiste schon auswendig wusste, war es keineswegs anstrengend oder ermüdend, es mir durchzulesen. Es war mir gleichgültig. Alles, was ich las, speicherte sich ab, obwohl eine der Statistiken, die ich hatte lernen sollen, besagte, dass das menschliche Gehirn angeblich erst ab 10 Uhr mittags voll funktionstüchtig war. Statistiken waren Sergio wichtig gewesen, so wie Vertrautheit mit Medien, Trends und Kultur, während die Frau, Larsa, mir Schulwissen wie Arzneien verschrieben hatte.
Erst, als zwanzig Minuten später die Haustür aufgeschlossen wurde, ging mir auf, dass ich nicht als Einzige zu dieser Stunde wach war. Bedauerlicherweise kam nicht etwa Misty oder Xavier oder irgendjemand anderes zurück, sondern es war Victor Benedict, der mit mir unter den Wachen verweilte. Welch ein Zufall.
Er hatte offenbar Sport gemacht, denn er trug nicht seinen üblichen schwarzen Anzug, sondern kurze, weite Sporthosen und ein einfaches, dunkles Shirt. Seine Haare waren vom Wind zerzaust, wogegen auch das Zopf nichts ausrichten konnte, der leichte Schweißfilm auf seiner Haut glitzerte im fahlen Licht, aber er wirkte genauso wach wie immer.
Er fragte nicht nach den anderen. Es war offensichtlich, dass nur ich wach war, und außerdem kannte er seine Familie wohl gut genug um ihre Schlafgewohnheiten einschätzen zu können, und in den seltensten Fällen standen Leute um halb Fünf an einem freien Tag auf.
Victor hielt neben mir kurz an, musterte die Blätter, die ich auf einen Stapel gelegt hatte und drauf und dran war, sie zu vernichten, aber er konnte die Sprache sowieso nicht. "Wieso bist du schon wach?", fragte er. Seine Stimme klang so früh am Morgen rau und noch tiefer als sonst, und an seinem Kinn entdeckte ich die zarten Morgenstoppeln eines noch unrasierten Bartes.
"Ausgeschlafen", antwortete ich lakonisch. Er hakte nicht nach, vielleicht, weil er sich denken konnte, dass ich andere Schlafgewohnheiten hatte als die Menschen hier, vielleicht, weil er selbst auch nicht mehr schlief.
Wahrscheinlich war er laufen gewesen. Morgens aufstehen, einmal quer durch London joggen, wach werden, Energie abbauen, fit bleiben. Gina hatte jahrelang nach diesem Prinzip gelebt - und natürlich hatten Rahel und ich darunter leiden müssen. Am frühen Morgen gab es eine kurze Zeitspanne, in der die Straßen nicht so dicht bevölkert waren, in der die Menschen noch schliefen. Das war natürlich Ginas Lieblingszeit gewesen, und so hatte sie Rahels und mein Schlafbedürfnis ignoriert und uns in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett gequält, damit wir mit ihr joggen gingen.
Wieder konnte ich mich nicht an das Gefühl erinnern, konnte nicht mehr nachvollziehen, wie es sich anfühlte, obwohl ich wusste, dass ich mit der Zeit angefangen hatte, unsere Morgenrunden zu lieben. Sehr wohl erinnerte ich mich an den reißenden Muskelkater, an das Brennen und Stechen in der Lunge, an die Übelkeit und das Ziehen im Unterleib, aber mindestens genauso gut konnte ich mich der Befriedigung entsinnen, wenn meine Leistungen sich verbesserten, auch wenn ich keine der Emotionen spüren konnte.
An seinem Arm war eine zarte Narbe, dünn und gebogen, kaum mehr als ein weißer Strich, der sich von der gebräunten Haut abhob. Anders als Lakes Entstellung war diese hier nicht von einem Feuer, sie war wohl eher ein Überbleibsel aus der Kindheit.
"Willst du etwas Essen?"
Wollte ich etwas Essen? Wann hatte ich zuletzt wirklich etwas Essen wollen? Wann hatte ich überhaupt zuletzt etwas gewollt? Mit einem weiteren, flüchtigen Blick auf die Uhr versicherte ich mich, dass es erst fünf Uhr in der Früh war. Jetzt etwas zu Essen würde bedeuten, dass man von mir erwartete, auch am Mittag etwas zu Essen, und dann noch etwas zu Abend. Wenn ich ablehnte, würde ich nicht wieder kräftiger werden, mein Körper brauchte einen heftigen Kalorienaufschub, um richtig in die Gänge zu kommen, aber er würde sich auch wieder daran gewöhnen, regelmäßig ernährt zu werden, und das könnte genauso gut zu einer Schwäche werden.
"Ja." Beides hatte seine Vor- und Nachteile. Ich aß seit Jahren sehr unregelmäßig, wenig und flüchtig, ich kam auch ohne Nährstoffe über den Tag, doch ganz gleich, wie lange ich brauchte, um Victor Benedict von mir zu überzeugen, ich würde Kraft brauchen.
Er nickte und richtete sich auf. "Ich gehe duschen. Die Küche dürfte leergeräumt sein, Misty hatte schon gestern nichts hier, wir gehen gleich irgendwo frühstücken. Warte hier."
Ohne ein weiteres Wort ging er in Richtung des Badezimmers weiter, das er und Xavier sich teilten. Sobald er hinter der Tür verschwunden war, nahm ich die Aufzeichnungen, ging zur Spüle und ließ Wasser darüber laufen. Ich sah den Blättern dabei zus, wie sie einweichten, wie die Tinte verschwamm und sie durchsichtig wurden, und lauschte angestrengt auf Geräusche. Hier war niemand wach, außer Victor und mir, und aus dem Bad hörte ich das Wasser der Dusche. Niemand befand sich in meiner Nähe, niemand konnte mir zur Gefahr werden. Rahel war vorerst in Sicherheit, ich befand mich auf einem guten Kurs. Heute flogen Doug und Sergio mir hinterher, doch sie wussten nicht, dass ich noch nicht in Denver war, sondern meinen Tag hier in London verbrachte.
Sobald die Blätter kaum als solche zu erkennen waren, knüllte ich sie zu einem kleinen Ball zusammen, wrang das Wasser aus und schmiss sie in die Mülltonne, die im schmalen Abstellraum unter der Spüle stand.
Jetzt wäre es für den weiteren Vorgang gut, eine Nachricht von Rahel zu erhalten, ein Update aus ihrem Leben, ob ihr noch etwas angetan wurde, aber egal, wie viel stärker die Nähe meines Seelenspiegels mich machte, einen solchen Abstand könnte ich nicht einmal überwinden, wenn ich gut trainiert wäre, gerade gefrühstückt hätte und schon seit Jahren engen Umgang mit Victor Benedict pflegte. Mir blieb also nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass der alte Mann sein Versprechen einhielt und Rahel unbehelligt freigelassen werden würde, wenn ich es schaffte, ihm Victor zu liefern. Vertrauen war keine meiner Stärken.
Als Victor mit feuchtglänzenden Haaren, einem frischen Anzug und einem rasierten Kinn aus dem Bad zurückkehrte, saß ich wieder am Tisch, nur ohne meine Aufzeichnungen. Ihm fiel das selbstverständlich auf, jedenfalls schloss ich das aus dem kurzen, prüfenden Blick, den er durch den Raum gleiten ließ, sobald er den leeren Tisch vor mir gesehen hatte, doch er ließ mir die Freiheit, meine eigenen Sachen zu verlegen.
"Wohin gehen wir?", fragte ich, als er seinen Schlüssel in die Tasche seines Jackett gleiten ließ. "Café, Restaurant oder Bäckerei", antwortete er und ließ mich an sich vorbei aus der Wohnung. Scheinbar überließ er es mir zu entscheiden, welche der genannten Möglichkeiten wir aufsuchten.
"Café." Da kam ich wohl am Besten zurecht. Eines von Tjaras Lieblingsgesprächen, als wir zusammen in meinem Zimmer im Quartier eingesperrt waren, waren die Ausflüge mit Mara zum nahegelegenen Café gewesen. Zwar sah ein Café in London sicher anders aus als eines in Kabul, Afghanistan, doch es war besser als ein Restaurant oder eine Bäckerei. Und außerdem lag es näher. Die Stadt war von Cafés bevölkert wie der Markt in Kabul von Menschen, sie drängten sich aneinander, Draußentische mit Schirmen und ohne, Fenstertische und eine reiche Auswahl an Essen.
Wir setzten uns draußen hin, an einen außenstehenden Tisch, sodass wir etwas Abstand zwischen uns und die wenigen Gäste brachten, die sich schon zu einer solch frühen Stunde nach draußen gewagt hatten. Victors Haare waren inzwischen getrocknet, auch wenn ich meinte, dass vereinzelte Strähnen noch dunkler hervorstachen als der Rest.
"Was willst du essen?"
Achte darauf, dass du gesund isst. Amerikaner mögen es, wenn ihre Flamme auf ihre Figur achtet. Ausgewogene Nahrung, nicht zu fett, nicht zu mager, gesund, geschmackvoll. Mit einem Cappuccino kannst du nie etwas falsch machen, aber kein FastFood. Doch pass auf, dass du in dieser Hinsicht nicht verklemmt wirst, du musst locker damit umgehen, dass du dich gesund ernährst.
"Einen Cappuccino." Ich warf einen Blick auf die Karte und dachte an die Worte, die Sergio mir eingeprägt hatte. "Und ein kleines Französisches Frühstück."
Ich faltete die Hände auf dem Tisch und sah mich um. Zwei alte Frauen, die an einem Tisch in unserer Nähe saßen, unterhielten sich, lachten und wirkten ziemlich melancholisch. Zwischen ihnen stand ein Korb aus Metallgeflecht, der mit Croissants gefüllt war, daneben Schälchen mit Marmelade, Honig und Nutella. Die schlanke Frau mit langen, schneeweißen Haaren, die ihr locker über die Schultern fielen, trank einen Milchkaffee aus einer großen Schale, ihre Begleiterin mit kurzen Haaren und einem rundlichen Bauch begnügte sich mit einem Espresso. Ein paar Plätze weiter saß eine Gruppe von Studenten, die Bücher offen neben sich, die ein reichhaltiges, Englisches Frühstück genoss und sich währenddessen unterhielt.
"Wissen deine Freunde von dem Mann?", fragte Victor, nachdem er unsere Bestellung bei einem Kellner abgegeben hatte. Er wusste, dass ich genau wusste, wen er meinte. Seine Gesichtszüge waren entspannt, auch wenn seine Haltung immer wachsam war und seine Augen alles wahrzunehmen schienen, aber nicht einmal diese Haltung konnte die Hintergedanken verbergen, die er mit dieser Frage zum Ausdruck brachte. Das Misstrauen, dass er gegenüber meine Geschichte empfinden musste - mir gegenüber.
"Nein." Alles andere wäre eine dreiste Lüge. Ich hatte keine Freunde, die irgendetwas über mich wissen könnten, aber ich ging auch nicht davon aus, dass Rahel eine Ahnung davon hatte, wie ihre große Schwester hinter Gittern gelandet war.
"Sie haben dich aus dem Gefängnis geholt ohne zu wissen, wieso du da warst?", forschte er nach. Seine Augen fingen das Licht ein und verschluckten es, sogen es auf, anstatt es zurückzuwerfen.
"Ja." Das hatte er auch getan. Er hätte mich aus dem Gefängnis geholt, ganz gleich, was ich getan hatte, denn ich war sein Seelenspiegel, und es war ihm bestimmt, mich zu lieben. Doch selbst wenn ich Interesse daran hätte, ihn mit dieser Eingebung meinerseits zu behelligen, er würde es abstreiten. Er hatte seinen Grund gehabt, mich genau jetzt aus dem Gefängnis zu holen, und wenn er mich über den Grund anlog, dann würde er auch diesem Einwand ausweichen.
"Hast du Familie in Afghanistan?"
Familie? Ich hatte einen Vater, soweit dieser noch am Leben war. Er hatte seine Töchter geliebt, aber nie mich. Er hatte Rahel und Nila geliebt, aber die Nila, die er haben wollte, hatte nie existiert. Meine Mutter war ebenfalls noch am Leben, aber sie war niemand, mit dem es sich zu befassen galt. Sie war weniger meine Mutter als die Frau meines Vaters. Meine Brüder hatten mich so sehr geliebt, dass sie mich zu dem Menschen machen wollten, der ich in ihren Augen hätte sein sollen, und bei dieser Aufgabe, die sie sich zugetragen hatten, hatten sie vor nichts zurückgeschreckt, nicht vor Gewalt, nicht vor Hass, nicht vor Demütigung. Und dann war da Rahel. Meine kleine, süße Rahel, meine geliebte Schwester, die wegen mir nicht mehr frei war. "Alle tot."
Diese Lüge war so leicht aufzudecken wie zu erzählen. Er würde herausfinden, dass ich ihm ins Gesicht log. Aber wenn ich nicht log, was sollte ich dann tun? Ihm etwa die Wahrheit sagen? Das würde keiner von uns überstehen, nicht Rahel, nicht ihr Mann, ich erst recht nicht. Eine andere Lüge wäre zu umständlich, wo es doch das Ultimatum gab. Er hatte mir verziehen, er hatte mich akzeptiert, aber er misstraute mir. Vermutlich würde ihn sein natürlicher Instinkt als FBI-Agent dazu zwingen, nachzuforschen, und dann würde er herausfinden, dass meine Familie sehr wohl am Leben war, aber er hatte akzeptiert, dass ich einen Menschen getötet hatte, hatte es als Recht abgehakt, er würde auch respektieren, dass meine Familie kein Thema war, dass es anzuschneiden galt.
Unser Frühstück kam. Er bekam einen doppelten Espresso, ein dunkles Brötchen und ein gekochtes Ei. Vitamine, Proteine, Koffein, Kalorien. Ich erhielt ein knuspriges Croissant, ein kleines Schälchen mit Pflaumenmarmelade und einen Cappuccino mit Kakaopulver auf dem Milchschaum und einem Caramellgebäck als Beilage. Zu dem Kaffee wurde jeweils ein kleines Glas mit stillem Wasser serviert.
"Was werden wir heute tun?" Vorsoge. Worauf hatte ich mich vorzubereiten? SmallTalk war keine meiner Stärken, also verließ ich mich darauf, dass ich nach Fakten fragte und er eine Unterhaltung in Bestand setzte. Ich hielt das Sprichwort Reden ist Silber, Schweigen ist Gold für nur allzu wahr, trotzdem mussten wir irgendwie ins Gespräch kommen, damit er sich in mich verliebte. Allerdings hatte ich meine Rechnung nicht mit Victor Benedict gemacht; ganz sicher nicht gesprächsscheu oder schüchtern, doch auch nicht die größte Plaudertasche.
"Lake wollte die British Library besuchen."
Ich bröckelte etwas von meinem Croissant ab und steckte es mir abwesend in den Mund. Es gab keine Tagespläne. War das gut oder schlecht? War Tiger Lorenson spontan und offen für alles, abenteuerliebend und neugierig oder festgesetzt und ordentlich?
"Was hast du gemacht, bevor du in das Gefängnis kamst?" Das war zwar kein SmallTalk, das war immer noch mehr Misstrauen als Neugierde, aber immerhin hielt er das Gespräch aufrecht. Jede Information zählte, und Informationen bekam ich durch Gespräche.
Was sollte ich ihm antworten? Ich war von meiner Familie geflohen und hatte auf der Straße ums Überleben gekämpft; das war wohl kaum die Antwort, die mir eine Freikarte von weiteren Erklärungen geben würde. Aber es war so gewesen. Ich hatte nicht studiert, ich hatte nicht gearbeitet, ich hatte keine Berufsausbildung, nicht geheiratet, ich hatte kein Leben gehabt. Immer auf der Flucht vor Menschen, die mich verfolgten, immer auf der Hut vor Menschen, die mich erkennen konnten, immer auf der Suche nach Menschen, denen ich Essen und Kleidung stehlen konnte, damit ich eine weitere Woche über die Runden kam. Ich war in der Schule in allen Fächern gut gewesen, weil ich Wert darauf gelegt hatte. Die wenige Ausbildung, die ich erhalten hatte, war mir wichtig gewesen, es war meine einzige Chance gewesen, diesem Leben irgendwann zu entkommen, aber was hätte ich gemacht? Wahrscheinlich hätte ich studiert, wenn ich in einem Industrieland gelebt hätte und Aussicht auf eine vernünftige Ausbildung gehabt hätte. Vielleicht Literatur, vielleicht Naturwissenschaften, vielleicht Kunst, ganz egal, ich hätte mir ein Leben aufgebaut, in dem ich niemals wieder unterdrückt werden würde.
"Ich musste die Schule abbrechen, weil mein Vater es nicht mehr bezahlen konnte, und dann habe ich Zuhause geholfen, sodass meine Eltern arbeiten gehen konnten." Diese Erklärung ersparte es mir, mir eine ganze Lebensgeschichte zurechtzulegen.
"Also hattest du keine Zukunftspläne?", bohrte er weiter nach. Wieso bekam ich langsam das Gefühl, dass er nach einer Möglichkeit suchte, mich abzuschieben? Das wäre gut. Dann könnte ich seinen Wunsch, mich aus seinem Leben herauszuhalten, respektieren und hätte zudem noch eine Information über das, was er von mir wollte. Ich brauchte Anhaltspunkte. Dringend.
Ich hatte Zukunftspläne gehabt. Nun ja, Pläne konnte man das nicht wirklich nennen. Es waren viel mehr Träume gewesen, denn schon früher hatte ich gewusst, dass mein Regeln für mich geregelt werden würde. Ein gutverdienender, fest auf dem Boden stehender Ehemann. Ein Haus. Kinder. So hatte meine Zukunft immer ausgesehen, und auch wenn Gina, Rahel und ich uns aus diesem Leben rausgeträumt hatten, hatte ich nie wirklich Pläne gemacht, wie es anders zu führen wäre.
Aber er fragte nach Plänen. Er wollte von mir, dass ich Pläne hatte. Oder nicht? Selbst Rahel könnte mir nicht helfen. Rahel würde mir sagen, ich solle einfach ich selbst sein. Genau das versuchte ich ja auch, nur wusste ich nicht, wer Ich war.
"Ich habe mir mehrere Möglichkeiten aufgehalten", wich ich aus. Das hatte ich auch. Ich könnte alles mögliche tun. Ich lernte schnell, passte mich an, merkte mir alles, was ich brauchte und würde mich schon durchschlagen. Ich könnte jeden Job annehmen, nach ein paar Tagen und umfassenden Recherchen würde ich mich eingelebt haben.
Als Victor Benedict nickte und es dabei beließ, wurde mir klar, dass ich wenigstens hier bei eine gute Karte gezogen hatte. Mit ziemlicher Sicherheit fiel es ihm nicht leicht, einfach zu akzeptieren, dass ich eine 26 Jahre alte Frau war, die weder eine vollendete Ausbildung noch Geld noch überhaupt einen Plan hatte, was sie tun wollte - und zudem noch jemanden ermordet hatte - und trotzdem überwand er sich und ließ mir Zeit. Ich musste besser werden, denn ewig würde ich keine Zeit haben, doch seine Annahme, der Rest unseres Lebens würde zusammenverlaufen, gab mir eine Gnadenfrist.
Wobei das gar nicht so weit gefehlt war. Im Rest seines Lebens würde ich eine Hauptrolle spielen. Bis zu dem Tag, an dem ich ihn verriet, er nach Afghanistan gebracht und dort exekutiert werden würde. Von diesem Mord durfte Rahel nie etwas erfahren, denn er war unvermeidlich für ihre Freiheit, und damit trug sie Mitschuld.
"Du bist FBI-Agent?", fragte ich, als ob ich es nicht genau wüsste. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich etwas aus ihm herauskriegen würde, das mir helfen könnte, war recht gering, doch keinen Versuch zu wagen, sollte nicht ungesühnt bleiben.
Wie erwartet erhielt ich nur ein knappes Nicken. Bei einem solchen Beruf hielt man sich wohl aus Angewohnheit bedeckt. Das half mir aber nicht weiter. Wenn ich wüsste, woran er arbeitete, wenn ich eine genauere Einschätzung hätte, wenn ich mehr über seine Person erfahren würde, dann könnte ich darauf aufbauen. Wie taten Menschen das bloß? Verbindungen herstellen?
"Ich würde gerne mit ihn die Bibliothek", beschloss ich kurzerhand. Eine Bibliothek konnte nie der falsche Ort sein. Für mein Wissen konnte es kaum einen besseren Ort geben, und außerdem war es sicher keine schlechte Idee, mich weiter an Lake zu halten, die es irgendwie geschafft hatte, eine enge Freundschaft zu meinem Seelenspiegel aufzubauen.
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Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)
Fiksi Penggemar|| Als die Tür hinter mir zufiel, hatte ich zwar den Besuch oder das Angebot, diesen Ort ein für alle Male hinter mir zu lassen, schon wieder aus meinem Kopf verbannt, doch etwas Anderes saß dort fest, klammerte sich mit eiserner Bitterkeit an mein...