Kapitel 3)

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Nanny hätte mir gesagt, dass ich unüberlegt vorging. Ich hätte erst mehr über das Angebot herausfinden müssen, so gut es im Gefängnis eben ging. Gina hätte es furchtbar aufregend gefunden, sie hatte sich schon immer gewünscht, etwas Aufregung in ihr Leben zu bekommen, doch eben diese Neugierde gegenüber Gefahr hatte dazu geführt, dass ihre Gliedmaßen bei der Explosion einer gewaltigen Bombe in der näheren Umgebung von Kabul auseinandergerissen und in alle Himmelsrichtungen zerstreut wurden. Mein Durst nach Abendteuern war mit meiner Kindheit gestorben. Vielleicht, weil ich mich ständig in einem befand. Wusste ich denn noch, wie ein normales Leben aussah? Hatte ich es je gewusst? Aufgewachsen war ich mit Terror, Tod und Unterdrückung, und den Weg hinaus aus diesem Ablauf hatte ich nie gefunden.
Die Straßen waren voll, wie immer, überall hupten Taxen, die im Stau standen, Menschen schrieen, gestikulierten wild und stritten sich, Soldaten patrouillierten in Gruppen und mit schweren Gewehren durch die Stadt. Seit ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich nicht viel verändert, auch wenn das schon mehr als ein Jahr her war.

Durch die getönte Scheibe des schwarzen SUVs, in den ich verfrachtet worden war, beobachtete ich das Treiben dort draußen. Das Auto stand schon seit Ewigkeiten hier, vielleicht hatten wir uns auch ein wenig bewegt, aber nicht erheblich. Ich saß auf der breiten Rückbank des stehenden Autos, neben mir die Frau, die mich im Gefängnis abgeholt hatte. Der Mann saß auf dem Beifahrersitz, und ein dritter, der in diesem Fahrzeug vor dem Gefängnis gewartet hatte, hupte wütend. Ansonsten herrschte Stille zwischen uns.
Ein paar Male fragte ich mich, ob ich vielleicht Kontakt zu irgendjemandem aufnehmen sollte, um mir Hilfe zu holen, doch Rahels Leben stand an einer Klippe und ich wollte nicht diejenige sein, die ihr den letzten Schubs gab.
Fast unbewusst hielt ich in der Menge der Fußgänger nach einem bekannten Gesicht Ausschau, womöglich mit stechend grauen Augen oder einer dunkelgrauen Maske, doch die Benedicts ließen sich nicht blicken. Ebenso wenig irgendwer anderes, den ich kannte. Allerdings waren meine Bekanntschaften stark beschränkt, und durch die letzten Jahre, in denen ich mich notgedrungen noch weiter von der Gesellschaft abgesondert hatte, wagte ich zu bezweifeln, dass es hier noch viele gab, die ich kannte.
"Sicher fragst du dich, was du für uns tun sollst", fing die Frau irgendwann wieder an zu reden. Ich wandte ihr mein Gesicht zu, um ihr zu signalisieren, dass sie meine Aufmerksamkeit hatte, doch noch immer konnte sie mein Gesicht nicht sehen, um meine Reaktion abzuschätzen.
"Wir wissen von deiner Gabe, und die wollen wir uns zu Nutzen machen", erklärte der Mann auf dem Beifahrersitz. Meine Gabe also. Hatte der Mann gewusst, dass ich anders war, bevor ich ihn umbrachte? Allerdings hätte meine Andersartigkeit auch darin liegen können, dass ich ihm ein Küchenmesser in den Hals gerammt hatte. Ich ballte die Hände zu Fäusten, als ob ich vor irgendwem die Narben verbergen müsste, die die Schneide damals hinterlassen hatte. Die tiefen Schnitte waren schlecht verheilt, die Haut war wieder zusammengewachsen, doch man sah die grobe, helle Narbenwulst, die sich von meiner Haut abhob.
"Du wirst als Killerin für uns arbeiten", schloss der Fahrer sich an. "Und als Schmuglerin. Du wirst deine Gabe nutzen, um dich als jemand anderes auszugeben und dich somit unseren Zielpersonen nähern. Beim Schmuggeln wird es ähnlich laufen."
Als ich ein kleines Kind war, hatte Nanny mir erzählt, dass meine Gabe etwas Besonderes sei. Dank ihr konnte ich anderen Menschen vortäuschen, ich sei jemand Anderes, jemand, den sie liebten. Sie sahen in mir dann die beste Freundin, den Bruder, die Mutter, ganz die Person, die ich für sie sein wollte. Allerdings war das Problem, den echten Geliebten aus dem Weg zu schaffen, bevor ich das tat. Genau wusste ich nicht, wie es für die anderen war, denn ich hatte selbst verständlich noch nie mich selbst getäuscht, aber Gina hatte beschrieben, dass ich in ihren Augen dann exakt wie die Person aussah, als die ich mich ausgab. Ich veränderte mein Aussehen nicht wirklich, aber ich erschuf die Illusion. Meine Stimme klang für mein Opfer dann anders, ich sprach anders und ich sah für sie anders aus. Dahinter zu kommen war beinahe unmöglich, selbst für Menschen, die mich mein ganzes Leben schon kannten. Mein Vater hatte gesagt, diese Gabe sei Gift, ich würde mich wegen ihr zu einer Betrügerin entwickeln, Rahel war davon fasziniert und meine Brüder... nun, sie hatten sich damit nicht abgegeben.
"Ich will Rahel sehen", verlangte ich. Ich musste mich davon vergewissern, dass es meiner Schwester gut ging, dass sie wohl auf war.
"Natürlich willst du das. Pjedro, fahr zum Quartier." Die Frau packte meinen Kopf, zog mich zu sich rüber, und ich ließ es geschehen, in Gedanken immer bei Rahel, die an der Klippe stand. Mir wurde eine Hand über den Schlitz gepresst, der für meine Augen eingenäht war, und alles wurde dunkel. Stickige Schwärze umfasste mich, in der ich mir fast wünschte, dass sie mich stattdessen einfach ohnmächtig schlugen, damit ich den Weg nicht sah, aber ich musste immer bei Bewusstsein sein. Zwar konnte ich nichts mehr sehen und kaum noch etwas riechen, weil die Frau stark pafürmiert war, doch ich konnte hören und fühlen.
Meine Entführer blieben stumm, wahrscheinlich, weil sie selbst wussten, dass ich noch hören konnte, aber ich spürte an der Hüfte der Frau die deutlichen Umrisse eines Dolches. Der glatte, lange Griff war von weichen Stoffen umwickelt worden, damit er leichter festzuhalten war, die Schneide war schlank und scharf, mit der Spitze könnte man ein Loch in Stein bohren. Mit leichten Berührungen tastete ich die Hüfte weiter ab, bis ich das Ende des Dolches fand, das sich an ihre Taille schmiegte. Er befand sich unter dem Stoff, sodass ich ihn nicht erreichen konnte, doch es war gut zu wissen, wo die Waffen aufbewahrt wurden.
Die Frau brummte und verlagerte ihr Gewicht, sodass der Dolch sich außerhalb meiner Reichweite befand, doch stattdessen fühlte ich etwas Weiches unter dem Stoff. Da die Dunkelheit so vollkommen war, dass meine Augen mich nicht ablenken konnte, konnte ich selbst unter der Burka die Umrisse des Stoffes fühlen, der sich dort befand. Ich war mir fast sicher, dass es sich um einen Verband handelte, um eine Mullbinde. Das war gut. Wenn die Frau verletzt war... doch noch immer duldete ich mir keine Gedanken an Flucht. Ich könnte weglaufen, doch gleichzeitig würde Rahel fallen, ich hätte ihr Todesurteil unterschrieben.
Als mir die nach Parfüm stinkende Hand endlich wieder vom Augenschlitz genommen wurde, war es auch im Auto selbst so dunkel, dass es erst einmal keinen großen Unterschied machte. Wir hatten offenbar in einer Lagerhalle geparkt, oder vielleicht auch einem Parkhaus, neben uns standen SUVs, ähnlich dem unseren, in demselben Mattschwarz, klumpig und mit getönten Scheiben. Ich hatte mich so sehr auf die Frau konzentriert, dass ich nicht mitbekommen hatte, wie wir anhielten, doch jetzt wurde meine Tür von außen aufgerissen und ich wurde aus dem Auto gezerrt. Es war der Beifahrer, der Mann mit dem harten Mund und den unscheinbaren Augen.
Die Frau rutschte hinter mir aus dem Wagen, als könne sie nicht auf der anderen Seite aussteigen, nahm meinen Ellenbogen in die Hand und zog mich mit sich. Während ich lief, sah ich mich genauer um. Die Wände waren in einem eintönigen Grauweiß gehalten, es standen ungefähr fünfzehn SUVs hier, die sich nur an den Kennzeichen unterschieden. Der Fahrer, Pjedro, hatte den Schlüssel, und er schloss das Auto per Knopfdruck ab, als er sich uns anschloss. Er war ein gedrungener, stämmiger Mann, vielleicht Mitte vierzig, doch ich unterschätzte seine Kraft nicht. Seine Haare waren gänzlich abrasiert und auf seinem kahlten, dunklen Schädel sah ich eine lange helle Narbe, als hätte jemand ihn dort mit einem Messer erwischt, vielleicht war es aber auch eine Geburtsnarbe. Sein Gesicht war grob und finster, seine Nase platt und groß, seine Augen klein und feist, sein Mund voll und hämisch. Seine Arme waren dick und kräftig unter dem schwarzen Sweatshirt, unter dem rechten Ärmel züngelte sich ein Schlangentattoo hervor, giftgrün und unansehnlich.
Pjedro öffnete eine schwere Eisentür mit einem Zahlencode, der zu schnell und zu lang war, als dass ich ihn mir merken könnte. Lediglich die Anfangszahlen 1 und 4 und die Endzahlen 7 und 2 blieben hängen, doch dazwischen lagen mindestens fünf weitere.
Hinter der Tür ging es in dem gleichen eintönigen Grauweiß weiter, mit dem einzigen Unterschied, dass hier keine SUVs mehr standen. Licht wurde von flackernden Langfeldbeleuchtungen gespendet, an der Decke und in den Ecken hatten sich schwarze Tiere eingenistet, von denen ich mir sicher war, dass ich nicht wissen wollte, was es war. Der enge Flur mündete an einer weiteren Tür, genauso schwer und mit einem weiteren Tastenfeld versehen. Ich strengte mich an, um einen Blick auf den Code zu erhaschen, um zu erfahren, ob es derselbe war wie vorne, aber diesmal bekam ich nur die Sieben mit. Allerdings könnte das der Beweis sein.
Hinter der Tür ergab sich ein weitläufiger Raum, der mit verschiedenen anderen Türen versehen war, in der Mitte ein langer, dunkler Tisch, dessen Oberfläche glatt und poliert war. Am Tisch standen zu jeder Längsseite etwa sieben Stühle und an den Enden weitere Zwei, sodass insgesamt 18 Leute dort Platz fanden. Die Stühle hatten hohe Lehnen, waren aus dem selben dunklen Holz wie der Tisch und sahen gänzlich unbequem aus. Über dem Tisch hing eine große, kunstvolle weiße Lampe, an einer Wand stand eine Heizung unter einem Fenster, dessen Läden aber zugezogen waren. An dem Tisch saßen drei Menschen. Ein älterer Mann, um die siebzig, mit dünnem grauen Haar, einem struppeligen Bart in derselben Farbe und klugen, schwarzen Augen, die von tiefen Altersfalten umgeben waren und von buschigen hellen Augenbrauen betont wurden. Neben ihm saß eine junge Frau, mit schwarzen, kurzen und wilden Haaren, einem herzförmigen, weichen und freundlichen Gesicht, großen braunen Augen, die vertrauenserweckend und freundlich waren, einem vollen, kleinen Mund und Grübchen an den Wangen, die sich vertieften, als meine Einkunft ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberte. Rahel trug keine Burka, noch nicht einmal ein Kopftuch, sondern eine blaue, lange Jeans und eine weiße Bluse, die ihre Haut dunkel strahlen ließ. Wie sie mich unter der Burka erkannt hatte, war mir ein Rätsel, doch meine Schwester sprang von ihrem unbequemen Stuhl auf, rannte auf mich zu und warf sich in meine Arme. Und ich fing sie auf, hielt sie sicher an mich gedrückt, ihren zierlichen, weichen Körper, schlang meine Arme um sie und versuchte, sie irgendwie vor der Welt zu beschützen.
"Nila", flüsterte sie, schluchzend, vor Glück und vor Trauer. Ihr Haar duftete nach Zitronen, nach Ingwer und Wind, wie schon immer, frischer Frühlingswind. Ihre Haut war zart und weich, wie alles an ihr, doch spürte ich, dass sie etwas zugenommen hatte.
Als ich sie vorsichtig auf dem Boden absetzte, als könnte sie daran zerbrechen, sah ich Tränen auf ihren Wangen und in ihren treuseligen Augen. Ich wischte sie ihr weg, war mir schmerzlich bewusst, wie rau sich meine Finger für sie anfühlen mussten, rau von Jahren auf der Straße und im Gefängnis. Traurig betrachtete Rahel die Narben an meiner Handfläche, die ich so gerne vor ihren mitleidigen Augen verborgen hätte.
"Wie geht es dir?", fragte sie mit sorgevoll zusammen gekniffenen Augen. Dass sie mich das fragte, während sie doch gefangen war, als Geisel fungierte, ließ ein Fünkchen Wut in mir aufflammen, etwas, das mir das Gefühl zurückgab, noch am Leben zu sein. Ein Gefühl. Etwas gefühlt hatte ich schon lange nicht mehr, nicht so, nicht auf diese Art und Weise.
Gerne würde ich sie beruhigen, doch ich würde meiner Schwester keine Lügen auftischen, die sie sowieso durchschauen würde. Rahel spürte es, wenn Menschen sie anlogen, sie hörte dann das Herz schneller klopfen, sah, wie die Pupillen sich weiterten und schmeckte die Lüge in der Luft.
Ich sah über ihren Kopf zu der dritten Person, die sich bei unserer Ankunft in diesem Raum befunden hatte. Ich kannte ihn, es war Rahels Mann. Er hatte helle Haut, so ungewöhnlich für Afghanistan, braune zottige Haare und stechend blaue Augen. Seine Lippen waren zusammengepresst, seine Augen huschten hektisch von einem Punkt zum nächsten, seine Hände hatte er ineinander verflochten, doch sah ich den Schweißfilm, der seine Stirn überzog. Er hatte Angst.
"Nun hast du sie gesehen", befand der Beifahrer mit dem harten Mund. "Ihr wird nichts geschehen, solange du tust, was wir dir sagen."
Rahel sah mich an, mit ihren großen Augen, und ich sah darin, wie sie mit sich rang. Früher hätte sie mich angefleht, nicht zu helfen, sie zu opfern, doch jetzt war auch ihr Mann involviert, jemand, den sie liebte, vielleicht mehr als mich. Es ging nicht mehr nur um sie, es ging um ihre Familie, um ihre Liebe. Ich sah den Schmerz in ihren Augen, als sie sich entschied, als sie entschied, das Leben ihres Mannes über das meine zu stellen. Die Qual der Wahl, doch sie hatte keine Wahl. Rahel warf sich etwas vor, auf das sie keinen Einfluss hatte, denn ich würde sie niemals hier sterben lassen, nicht sie und nicht ihren Mann.
"Pass auf dich auf", flüsterte meine Schwester, voller Schuldgefühle und Schmerz und Einsamkeit. Ihr Mann stand auf, als spüre er ihre Gefühle, nahm sie in den Arm. Er war ein guter Mann, zwar nicht unbedingt tapfer, aber selbstlos und er sorgte sich um meine Schwester. Er würde ihr hier durch helfen, durch die Schuld, und sie würde ihm gegen die Angst helfen. Sie waren ein Team, so wie ich eine Einzelkämpferin war.
Ich strich meiner geliebten Schwester noch einmal durchs Haar, dann trat ich zurück und ließ zu, dass die Frau meinen Ellenbogen wieder nahm. Als ich durch den Raum zu einer anderen Tür geführt wurde, sah ich über die Schulter, so lange, bis das schwere Eisen zufiel und meine Schwester aus meinem Sichtfeld verschwand, und mit ihr die Tränen, die über ihre Wangen liefen, Tränen der Schuld.
Ich durfte nicht zulassen, dass noch etwas dazu kam, dass sie auch noch die Schuld für Menschenleben auf sich lasten fühlte. Wenn ich jemanden töten musste, und Rahel es erfuhr, würde sie es sich niemals verzeihen. Meine Unschuld war verschwunden, als ich mein Leben rettete und dafür das des Mannes nahm, doch ihre war noch da, beständig, und so würde es bleiben, bei allem, was ich dafür tun konnte.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt