11. Kapitel

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Die darauffolgende Stille kam mir vor wie eine Ewigkeit.
Von irgendwo aus dem Gang fuhr ein Windhauch in die Höhle, umwehte meine Beine und ließ diese zittern und Solanas langes, weißes Fell ein wenig wehen. Die Fellsträhne, die ihr halbes Gesicht verdeckte, wurde zur Seite gefegt und offenbarte den Blick auf ihre rotbraunen Augen.

Als ich ihren Blick sah erkannte ich sofort, dass sie ihre Worte ernst meinte. Solana war besorgt. Sehr besorgt. Und ich sah noch etwas anderes - sie hatte Angst. Und zwar nicht vor Samatha oder jemand anderem, sondern vor etwas, dass sie selber nicht hätte benennen können.

Wenige Sekunden später musste ich allerdings feststellen, dass die Stille nicht länger als ein paar Herzschläge gedauert haben musste.
Denn schon kurz nachdem Solana ihre Worte ausgesprochen hatte, stieß Samatha das lauteste Grollen aus, das ich jemals gehört hatte und welches meine Ohren klingeln ließ, und sie stürzte wie ein blauer Blitz auf Solana zu.

Das zarte, vierbeinige Pokemon konnte nur noch ein paar Schritte nach hinten taumeln und schockiert die Augen ausreißen, dann riss Samatha sie von den Beinen und sie wurde nach hinten geschleudert. "Spuck hier nicht so große Töne, wenn du eben bewiesen hast das du dazu nicht in der Lage bist!" Brüllte das Brutalanda.

Kleine Kristallsplitter flogen in alle Richtungen davon, als Solana gegen die Wand krachte und schlaff zu Boden fiel.

Von der Stelle, an der sie aufgetroffen war, zogen sich kurz danach Risse durch die Wand und kurz darauf auch durch die Decke.

Genau das war der Moment, in dem in meinem Kopf sämtliche Alarmglocken laut losschrillten. Meine angeborenem Instinkte sagten mir, dass ich mich besser schnell aus dem Staub machen sollte, wenn ich den nächsten Sonnenaufgang noch erleben wollte.

Doch genau wie Solana schaffte ich nur wenige Schritte, bevor über mir die Welt zusammenbrach.

Genauer gesagt, die Höhlendecke.

Wie funkelnde Schneeflocken regneten die Kristallscherben auf den Boden und Solanas scheinbar leblosen Körper nieder. Auch ich bekam ein paar Splitter ab, allerdings bei weitem nicht so viele wie Samatha, die nun in der Mitte der Höhle stand.
Die großen, scharfkantigen Kristalle schlugen auf ihre Schuppen auf, blieben auf ihrem Rücken liegen oder fielen weiter zu Boden, ohne weiteren Schaden anzurichten.
Das gewaltige Brutalanda stand einfach nur da, atmete schnaubend und starrte hasserfüllt auf die am Boden liegende Solana.

Als der Regen vorüber war, stellte ich erleichtert fest, dass die Wände und die Decke der Höhle von Solana nicht allein aus dem spiegelnden Kristall bestanden hatte. Es schien nur eine dünne Schicht gewesen zu sein, hinter der sich eine massive, glatte Wand aus dunklem Fels befand.

"Nachtara!" Knurrte Samatha und wirbelte so schnell zu mir herum, dass ihr kräftiger Schweif einige der am Boden liegenden Kristallbrocken erneut durch die Luft schleuderte.
"Nimm sie und dann los. Wir haben nicht ewig Zeit."
Sie bahnte sich ihren Weg durch die Scherben und schob sich an mir vorbei, um wieder in dem Gang, durch den wir gekommen waren, zu verschwinden.

Noch immer unter Schock stehend und mit watteweichen Beinen stieg ich über die Kristalle. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass sie Samatha nicht verletzt hatten, denn sie waren nicht nur groß und sicherlich auch schwer, sondern hatten auch scharfe Kanten, die mit beim Laufen die Ballen aufschlitzten.
Als ich bei Solana angekommen war, schob ich so vorsichtig es ging die Splitter zur Seite, die ihren Körper bedeckten. Ihr weiches Fell kitzelte an meinen Pfoten.
Mein Herzschlag beruhigte sich, als ich fühlte, dass sie immernoch Wärme ausstrahlte. Wie durch ein Wunder schien sie sowohl Samathas Stoß und das Zusammentreffen mit der Wand, als auch den darauffolgenden Trümmerregen überlebt zu haben.

Doch im Gegensatz zu ihrer Anführerin hatte sie das alles nicht unbeschadet überstanden. So, wie ihr Bein verdreht war, war es mindestens einmal gebrochen, an ihrem Kopf waren dicke Beulen angeschwollen und ihre Schultern, ihre Flanke und ihre Brust zierten nun breite, blutende Schrammen. Der metallische Blutgeruch erfüllte langsam, aber sicher die Luft. Ich musste raus aus dieser Höhle, sonst würde ich mich in naher Zukunft übergeben müssen.

Tapfer kniff ich die Augen zusammen und schob den Körper des zarten Pokemon auf meinen Rücken, drehte mich vorsichtig herum und folgte Samatha.

Solana war so leicht wie eine Feder, und je länger ich sie trug, desto mehr stieg mir der süßliche Geruch ihres Fells in die Nase. In einer gewissen Weise, die ich nicht erklären konnte, fühlte ich mich von diesem Geruch an Glace erinnert. Quälende Erinnerungen stiegen in mir auf und schnitten so schmerzhaft in mein Herz, dass ich das pochende Brennen in meinen Pfoten für einen Moment vergaß.

Ohne das ich es verhindern konnte, bahnten sich kalte Tränen den Weg aus meinen Augen und drangen durch das Fell an meinen Wangen. Nur mit großer Mühe konnte ich verhindern, scharfe Erinnerungen in Form von Bildern in den Kopf zu bekommen. Wäre dies geschehen, hätte ich mich mit Sicherheit nicht mehr auf den Beinen halten können.

An der Stelle, an der wir uns vor einiger Zeit von Espasa und Jolt getrennt hatten, wurden ich, Solana und Samatha von dem Psiana bereits erwartet.

Espasa wirkte nervös, ihr Blick huschte wieder und wieder über die Wände schweifen, ihre Beine zitterten und hin und wieder zuckte die gespaltene Spitze ihres Schweifes vor Anspannung.

"Ich habe mit dem Boss gesprochen." Meinte sie, sobald sie ihre Anführerin erblickt hatte. Kurz schien sie weitersprechen zu wollen, doch sie verstummte als ihr Blick auf mich und Solana fiel. Ihre Augen weiteten sich ein kleines Stück, was mich ein wenig verwunderte.
Espasa musste Bilder wie dieses ständig sehen, sie lebte hier. Pokemon zu töten schien in dieser Gemeinschaft an der Tagesordnung zu sein.

"Und was hat sie gesagt?" Riss mich Samatha knurrend aus meinen Gedanken. Espasa zuckte ebenfalls heftig zusammen, der rote Stein auf ihrer Stirn blitzte einmal kurz und hell auf, und erhob sich auf ihre Pfoten.
"Sie sagte....wir sollen Slashy am Leben lassen." Als sie das ansprach, triefte ihre Stimme nahezu vor Erleichterung. "Außerdem hat sie eine Botschaft an Lazzly."

Sichtlich zufrieden nickte Samatha. "Wundervoll." Sie spazierte an Espasa vorbei. "Salazandoras Wort ist Gesetz. Wir lassen ihn am Leben." Sie stieß den noch immer am Boden liegenden Slashy mit dem Fuß in die Flanke. "Espasa, trag bitte Slashy. Wir bringen ihn zu seiner Familie, bevor wir dieses", ihr Blick fiel auf Solana, "Problem hier beseitigen werden."

"W-was?"
Espasa, die schon drauf und dran gewesen war, Slashy aufzuheben, riss schockiert den Kopf herum und starrte Samatha fassungslos an. "Du...willst Solana wirklich umbringen? Obwohl sie nichts schlimmes getan hat?"

Der Drache blieb stehen, und langsam drehte sie ihren Kopf zu dem Psiana herum.
"Espasa." Ihre Stimme hatten nun einen süßen Klang, fast wie eine Mutter; wenn sie mit ihrem Jungen sprach. "Der Meister hat um ein Gespräch mit dir gebeten." Spontan konnte ich keinen Zusammenhang zwischen ihren Worten und Espasas Zweifel finden. "Du wirst später im Beschwörsaal mit ihm reden und bis dahin", nun wurde ihre Stimme laut, bedrohlich und grollend, wie der Donner eines sich in der Ferne nähernden Gewitters, "wirst du tun was man dir befiehlt!"

Erschrocken ließ Espasa die Ohren hängen und nickte hastig. "Ja...ja Samatha. Entschuldigung." Sie packte Slashy und schleifte ihn an ihrer Anführerin vorbei in die Dunkelheit hinein.
Samatha sah zu mir. "Beweg dich, Nachtara!"

Während ich Espasa folgte, dachte ich darüber nach, wie sehr sich ihr Verhalten in den letzten Stunden verändert hatte. Von der harten und abwesenden Art, die sie mir gegenüber zuvor noch gehabt hatte, war seit dem Erdbeben nicht mehr viel übrig. Vielleicht lag es an Samatha, denn das Brutalanda hatte eine Ausstrahlung die selbst ein Machomei in die Knie gezwungen hätte, und sie hatte mehr als einmal deutlich vermittelt, dass sie nicht davor zurückscheute, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen und über Leichen zu gehen.

Vielleicht, schlich sich mit einem Mal der Gedanke in meinen Kopf, vielleicht lag es auch gar nicht an Samatha. Vielleicht hatte dieses Erdbeben auch schlicht und einfach dazu geführt, dass Espasa nun ihr wahres Gesicht zeigte. Möglicherweise war sie gar nicht das harte, ungnädige, herzlose Pokemon ohne Skrupel, dass sie vorgegeben hatte zu sein.

Es war eine von vielen Fragen, die mich plagten wie eine Vergiftung. Und das schlimmste war, dass ich absolut keine Ahnung hatte, ob irgendwo da draußen in der Dunkelheit eine Antwort auf all diese Unklarheiten lag.

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Angel of Darkness (Pokémon FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt