8: Kaffeekränzchen und Nachtgespenster

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„Das ist sowas von ein Date mit diesem Doktor", stellte Beth grinsend fest und zwickte mich. „Ich meine, was auch sonst? Wer trifft sich denn wohl einfach mal so mit seiner Aushilfe? Ach nein, du bist ja wieder frei!"

„Keine Ahnung. Normale Menschen?"

„Kathy." Ihre braunen Rehaugen blitzten mich durch die dunklen Locken an. „Du würdest nicht mal merken, dass ein Kerl was von dir will, wenn er sich auf dich stürzt."

Sie lachte lauter, als sie sollte und ich warf ihr einen bösen Blick zu. Leider hatte das eher die gegensätzliche Wirkung.

„Hey, es ist lange her."

„Ja, fünf verdammte Jahre. Deine Jungendliebe war mit 16, schon recht spät wie ich finde. Die Realität, meine Liebe, sieht ganz anders aus, deshalb tue uns beiden den Gefallen und versau es dir mit dem Arzt nicht."

„Uns beiden?", wiederholte ich und zog eine Augenbraue hoch, was ich zuvor stundenlang vorm Spiegel geprobt hatte.

„Ja, denn ich leide als gute Freundin schließlich mit dir."

Die Mensa der Uni roch ein wenig nach altem Frittenfett gemischt mit dem süßlichen Geruch der Muffins, die auf unseren Tellern lagen. Wir hatten das Mittagessen verpasst und saßen nun auf den orangenen Plastikstühlen, deren Lehnen so komisch gebogen waren, dass der untere Teil einem immer in den Rücken stach, und beobachteten die wenigen Leute um uns herum. Ein Pärchen stand vor dem großen Bild, auf dem ein unsagbar dunkler Wald voller Bäume und am Wegesrand ein kleines Mädchen abgebildet waren. Schon an meinem ersten Tag hing es an dieser Stelle und erinnerte mich an die Geschichte von Rotkäppchen. Ein Kindermärchen mit einer dunklen Geschichte, die über die Zeit vergessen wurde.

Ich biss in meinen Buttermuffin mit Zitronenglasur und lehnte mich zurück. Das Semester war vorüber, die Prüfungen alle geschrieben und nun hieß es abwarten, Däumchen drehen und beten, dass ich bestanden hatte. Da konnten wir uns die extra Portion Kalorien gönnen.

„Was ist eigentlich mit deinem Projekt?", erkundigte sich Beth plötzlich und warf einen Blick über ihre Schulter, in die Richtung, in der das Atelier der Uni lag.

Jeder Student konnte sich dort einen Raum mieten, um sich kreativ auszuleben. In den vergangenen Wochen hatte ich dort viel Zeit verbracht. Einerseits, weil das Projekt in wenigen Tagen abgegeben werden musste und andererseits, weil ich meine übernatürlichen Erfahrungen so besser verarbeiten konnte. Jedenfalls war mein Bild so gut wie fertig und ich relativ stolz darauf.

„Kathy, hörst du mir noch zu?"

„Ah, ja entschuldige. Willst du es dir anschauen?"

Wild nickend und mit strahlenden Augen nahm sie mich an die Hand. Das mehrstöckige Gebäude besaß deckenhohe Fenster, die viel Tageslicht in die einzelnen Räume ließen und war umgeben von kleinen Beeten mit Wildblumen. Während sich die Arbeit oberhalb der Erde abspielte, wurden im unterirdischen Keller die Bildnisse eingelagert. Die Wände waren hoch und vom endlosen Flur aus reichten insgesamt acht Türen in die Lagerräume. Es roch nach Acrylfarben, Harz und Bimsstein. Mittlerweile fand ich mich hier unten blind zurecht, ging in die zweite Tür von rechts zur hintersten Schrankwand und zog die flache Schublade mit der Nummer 113 heraus, in der mein Keilrahmen lagerte.

„Nicht schlecht", staunte Beth und hielt das Bild mit einer Armlänge Abstand vor sich. „Aber wieso Wölfe?"

„Ähm ..." Ich fühlte mich ertappt und erntete einen skeptischen Blick ihrerseits. „Es sind sehr majestätische Tiere."

„Und jetzt eine individuellere Antwort. Aus einem Biobuch kann ich auch vorlesen."

„Ich bin mir nicht so sicher. Wir sollten uns auf eine Geschichte unserer Kindheit beziehen und mir kam spontan Rotkäppchen in den Sinn." Zugegeben, so spontan war meine Idee nicht, aber sie passte eben in mein verdrehtes Weltbild hinein.

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