32: Wenn der Schleier fällt

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Wer war er in meinen Augen? Das angsteinflößende Monster, das menschenmordend durch die Straßen streunte oder der blutbefleckte Held meiner eigens erdachten Geschichte? Mein Herz machte einen Sprung und bunte Sprenkel färbten mein Sichtfeld, als Ryan sich zu mir herunterbeugte.

Ich senkte mit wahrscheinlich knallrotem Gesicht den Blick und platzierte meine Hand auf seiner Brust, versuchte ihn wenigstens ein Stück von mir zu drücken. Allerdings stemmte er sich gegen meinen Widerstand und ein Grollen erschütterte seinen Körper.

„W... Wir müssen Joshua holen", wisperte ich und fühlte mich sofort schlecht, dass ich meine eigenen Gefühle über Joshuas Sicherheit gestellt hatte. Ryan schien es ähnlich zu ergehen, denn er ließ meine Hand los und richtete sich rasch auf. Seine goldenen Strähnen hingen ihm ins Gesicht, ließen ihn ungeordnet wirken, aber sein stoisches Ich war wieder in den Vordergrund getreten.

„Was meinst du mit wir?", hakte er nach und sah mich schief von der Seite an. „Dich mitzunehmen, wäre viel zu gefährlich."

„Ich weiß, aber ..."

„Aber?" Er zog eine Augenbraue hoch und hob mein Kinn mit seinem rauen Zeigefinger an, sodass ich seinem Blick standhalten musste. „Du kannst meine Frage später beantworten und ich muss dir wohl kaum die Möglichkeiten aufzählen, wie du dich auf dem Weg zu Josh verletzen könntest."

„Ich möchte aber helfen."

„Ich weiß und das ist der Grund, warum ich dich nicht mitnehme!"

Ein fragender Laut entkam meiner Kehle und ich stolperte hinter ihm her, während er sich bereits mental für den Aufbruch fertigmachte, aus dem Zimmer und die Treppe hinabstürmte. Ich erhaschte seinen Ärmel und zerrte ganz leicht daran, was ihn in Windeseile dazu brachte, sich zu mir zu drehen.

„Was noch?", bellte er und mir war klar, dass jede Sekunde für Joshua entscheidend sein könnte, doch ich konnte ihn nicht so gehen lassen.

„Du bist für mich ..." Da war er wieder, der Kloß im Hals, der mir nicht nur die Stimme, sondern auch die Luft zum Atmen nahm. Ich zitterte, obwohl mir alles andere als kalt war. Meine Beine drohten nachzugeben und aus heiterem Himmel packte Ryan meine Taille, was mir den gewünschten Halt gab, aber mein Herz zum Explodieren brachte. „Du ..." Ich konnte nicht mehr sprechen und wusste nicht warum.

„Dafür habe ich jetzt keine Zeit." Etwas in seiner Stimme klang enttäuscht, zweifelnd und zögerlich, erstarb jedoch schnell. „Bleib hier, wo es sicher ist. Ich nehme dich nicht mit, weil ich als Werwolf laufen werde. Sobald ich wieder zurück bin, reden wir weiter ... versprochen."

Ich nickte, spürte mein Herz gegen meinen Brustkorb donnern, als wolle es herausspringen. Angst überschwemmte mich, aber ich vertraute seinem Instinkt, seiner Stärke und seinen Worten.

Erleichtert gab er mich frei und zog sich das Hemd in einer einzigen, einstudierten Bewegung über den Kopf. Verblasste Narben zeichneten Muster auf seine Haut, die in dem richtigen Licht einem Kunstwerk glichen. Auf seinem nackten Rücken tanzten die Muskeln, während er an seinem Gürtel fummelte und einen Blick über die Schulter zu mir riskierte. Sofort drehte ich mich um, peinlich berührt und mich selbst für mein Starren verfluchend.

Dann hörte sich, wie sich die Haustür öffnete und zurück ins Schloss fiel. Erst danach konnte ich mich bewegen und betrachtete den Haufen Klamotten auf dem Boden. Sie wegzuräumen schien mir irgendwie nicht richtig und ich entschied mich, im Wohnzimmer auf Ryan und hoffentlich auch Joshua zu warten. Diese Ungewissheit und das Nichtstun würden mich jeden Moment um den Verstand bringen, aber Ryan hatte recht damit, dass ich ihm nur eine Last gewesen wäre.

Aufs Sofa plumpsend spukten mir die wildesten Gedanken durch den Kopf. Arthurs Macht war groß. Er kontrollierte oder delegierte die Alphawölfe und von denen gab es neben Damian noch zwei weitere. Wie viele Werwölfe lebten wohl insgesamt in dieser Gegend und wie standen sie zu dem südlichen Rudel, bei dem ich mich gerade befand? Wenn Arthur ihnen drohte, Ryan einst umbringen wollte, wie konnte man ihm dann trauen? Sollte er nun eine größere, aktuellere Gefahr darstellen als Utopia? Oder würde uns dieser Alpha aus dem Norden bald auch einen Besuch abstatten?

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