64: Mein Platz an deiner Seite

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Der Wind peitschte mir unablässig ins aufgeheizte Gesicht und ich zweifelte daran, dass Ryan die offenen Straßen mied. Wir hatten das Gelände der Lagerhallen rasch verlassen und ich Mühe, mich auf Ryans Rücken zu halten. Eine unangenehme Taubheit lockerte meinen Griff in seinem Fell.

In meinem Kopf herrschte das absolute Chaos. Obwohl wir Gideon ein für alle Male los waren und er nie wieder jemandem Leid zufügen könnte, wurde mir nur bei der Erinnerung an seinen zuckenden Körper schlecht. An den Tod würde ich mich niemals gewöhnen können, eine Eigenschaft, die mir erst jetzt wichtig vorkam.

Ryan verfiel auf einmal in einen Trab und ich setzte mich auf. Wir befanden uns am Waldrand, nur wenige hundert Meter vom Industriegebiet entfernt. Damian wollte, dass wir nach Joshua Ausschau hielten und hatte damit meinen größten Wunsch angesprochen. Nichts wollte ich mehr, als den Jungen zurück zu bringen, deshalb war ich überhaupt erst losgestürmt. Dass ich als erstes auf Gideon treffen musste, schien mir wie ein schlechter Scherz des Schicksals.

Die Rauchfahnen der umliegenden Kraftwerke blichen den Himmel aus und verdeckten die Sonne. Ich atmete tief durch, roch die Abgase und den nassen Asphalt. Unter mir bewegte sich der mächtige Wolf. Ich spürte jede Anspannung seiner Muskeln und die Wärme seines Körpers an meinem.

„Wir sollten weit genug weg sein", flüsterte ich und ließ die Fellbüschel los, in denen ich mich festgekrallt hatte. Allerdings reagierte er nicht auf mich. „Wenn du anhalten würdest, könnte ich absteigen und selbst laufen."

Ein leises Knurren brachte seinen Körper zum Beben. Ich ließ den Blick schweifen, weil Ryan noch langsamer geworden war, aber ich erspähte keinen Feind oder verirrten Wanderer. Also machte er seinem Unmut aus einem anderen Grund Luft. War ich es vielleicht? Grollte er, weil ich ohne ein Wort aufgebrochen war?

„Ryan ... wegen dem ganzen Schlamassel ... es tut mir leid. Ich weiß, du wolltest noch abwarten, aber ich konnte nicht mit dem Wissen, dass Joshua in Gefahr ist, in dieser ruhigen Waldhütte sitzen."

„Ich verstehe", hörte ich seine tiefe, bedrückt klingende Stimme.

Sie schallte schwer in meinem Kopf und mein Magen verkrampfte sich. Der Wolf blieb stehen, weshalb ich dazu ansetzte, von seinem Rücken zu klettern. Beide Beine hingen bereits auf einer Seite, da hielt ich inne.

„Nicht", bat er plötzlich.

„Was denn?", hakte ich perplex nach und verharrte in der Bewegung, ein Bein bereits auf dem Boden.

„Ich möchte dich noch eine Weile spüren können."

Sofort stieg mir die Hitze von der Mitte meines Körpers in die Wangen. Mir wurde schwindelig und ich begriff, welche Angst er um mich gehabt haben musste. Sachte fuhr ich durch das weiche Fell. Er entspannte sich allmählich, je näher ich seinem Gesicht kam. Die Augen hatte er geschlossen, die Lefzen ein wenig hochgezogen. Dieser quälende Ausdruck schmerzte mich so sehr, dass ich mich auf den kalten Waldboden wiederfand. Weinend klammerte ich mich an seinen Hals, roch den Regen und die Erde in seinem Fell. Er schmiegte seinen Kopf an meinen Rücken, schob mich so näher an sich und sagte eine ganze Weile kein Wort.

„Du weißt, dass ich dich liebe, richtig?", fragte ich ihn in die Stille hinein und war froh, dass er mein Gesicht nicht sehen konnte. Meine Wangen glühten und meine Finger fühlten sich einerseits taub, andererseits auch schweißnass an. Ich atmete tief durch und sammelte meine Gedanken, doch mein Mund war in meiner inneren Aufregung schneller als mein Gehirn. „Wenn wir alle in Sicherheit sind, dann ..."

Was wollte ich eben sagen? Was würde passieren, wenn wir wirklich alle sicher waren und wie lange würde das tatsächlich dauern? Mein Herz donnerte gegen meine Brust, ließ sich nicht mehr beruhigen. Ängstlich drückte ich mich fester an Ryan.

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