45: Die Jagd beginnt

3.9K 348 129
                                    

Der Saal, in den mich Stella gebracht hatte, diente den Besprechungen der höher gestellten Leute Utopias. Ich verstand bisher noch nicht allzu viel von den Hierarchien, die hier zumindest unterschwellig herrschten, aber ich wusste, dass ich ziemlich weit unten in der Nahrungskette stand. Ihre Blicke waren forschend, ungläubig und die eine Frau wirkte ängstlich in meiner Gegenwart.

Abwesend senkte ich den Blick. Ich folgte ihren Gesprächen nicht, konnte ihnen nicht folgen. Es ging um Werwölfe und Anzeichen eines Rudels im Norden. Mehr bekam ich nicht mit, versank in meinen eigenen Gedanken und hoffte, dass dieser verschlafene Zustand der Sedativa und Schmerzmittel geschuldet war.

Erst als Gideon mich an der Schulter berührte, schreckte ich auf und schaute mich um. Die meisten der Anwesenden hatten den Saal bereits verlassen und neue Leute strömten herein. Was? Noch eine Sitzung? Ich suchte Gideons Blick, zuckte allerdings ängstlich zusammen, als ich sein Gesicht sah. Er zog die Augenbrauen zusammen. Sein Blick verdunkelte sich und er leckte sich über die Lippe. Wut blitzte in ihm auf – nein, sie nahm ihn ganz und gar ein. Er rümpfte die Nase, zog die Augenbrauen noch weiter zusammen, dass ich befürchtete, sie würden sich jeden Moment in der Mitte treffen. Ich folgte seinem Blick und landete in einer kleinen Gruppe Männer. Nur einer von ihnen blickte zu uns. Dabei trug er eine ebenso verachtungsvolle Miene wie Gideon.

Instinktiv musterte ich diesen einen Mann genauer. Seine Statur wirkte deutlich größer und muskulöser als die der Umstehenden. Er bewegte sich sehr vorsichtig, schien mit keinem der anderen zusammenstoßen zu wollen und fühlte sich offenbar fehl am Platze. Ich neigte den Kopf. Ob er wohl einer der anderen Jäger war?

Plötzlich löste der Mann seinen Blick von Gideon und starrte mich mit seinen blauen Augen an. Emotionen regneten auf mich ein, deren Ursprung ich nicht ausmachen oder verstehen konnte. Nur der Vorhang aus seinen goldblonden Strähnen, die ihm wild ins Gesicht fielen, schwächte seine eisigen Augen ein wenig ab. Er fixierte mich, als wäre ich seine Beute. Also gehörte er zu den Jägern.

Ein Schauer huschte mir über den Rücken, stellte meine Nackenhaare auf und ich wandte den Blick rasch ab. Kannte ich ihn? Kannte er mich? Mir stockte der Atem. Meine Glieder erschlafften. Es traf mich wie ein elektrischer Schlag. Ein Stechen in meiner Brust zwang mich in die Knie. Meine Haut spannte sich schmerzhaft. Kurz darauf ergriffen Gideons Hände meine Schultern.

„Helft mir, schnell!", rief er durch die Menge und ein anderer Mann, nicht der Blonde, half mir gemeinsam mit Gideon auf die Beine. „Wir bringen sie zurück in den Krankenflügel. Sie muss sich noch etwas ausruhen, bevor sie wieder arbeiten und jagen kann."

Ich warf einen flüchtigen Blick über meine Schulter, während sie mich aus dem Besprechungssaal führten. Der blonde Mann sah mir nicht direkt nach, aber sein Kreuz war angespannt und seine Hände zu Fäusten geballt. Wieder der Schmerz, der sich von meiner Brust über den ganzen Körper ausbreitete und mich lähmte. Eisern verkniff ich mir einen Aufschrei, biss die Zähne fest aufeinander und atmete erst auf, nachdem ich wieder auf meinem Krankenbett saß.

„Das wird kurz wehtun", murmelte Gideon in Gedanken und setzte eine Nadel an meinem Arm an. „Ich will deine Blutwerte noch einmal überprüfen. Sind die Schmerzen auszuhalten?"

„Das Stechen klingt ab", erwiderte ich und das entsprach sogar der Wahrheit. Ich spürte die Stiche, das Prickeln zwar noch, aber lange nicht so schlimm wie zuvor. „Wird das noch öfter passieren? Dass ich wegen der Verletzung zusammenbreche?"

„Nein, nein", beruhigte er mich und stach in mein Fleisch. Blutstropfen für Blutstropfen lief in den zylinderförmigen Hohlraum, färbten diesen rot. „Diese Schwächeanfälle sind ganz normal, bedenkt man, dass du einen Werwolfangriff und eine Operation hinter dir hast. Das wird besser. Du musst dir nur Zeit lassen."

Paws on GlassWo Geschichten leben. Entdecke jetzt