68: Heute, morgen und übermorgen

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Verdutzt wanderte mein Blick zwischen den beiden Männern hin und her, bis mein Körper sich wie von selbst in Bewegung setzte. Erst ganz langsam, fast gemächlich stieg ich aus dem Bett, meine Augen erst auf Ryan, dann auf Damian geheftet. Die Worte des Letzteren flogen wie kleine Wattebäusche durch meinen Kopf. Federleicht und ohne eine Chance, sie richtig aufzufassen.

Joshua war wach.

Ich schluckte, hörte auf einmal das Blut in meinen Ohren rauschen und rannte los - an Ryan und Damian vorbei, den Flur und die Treppe hinunter. Jede Stufe fühlte sich wie ein erlösender Sprung an. Ein Sprung ins Nichts, das dennoch so viel Potenzial haben konnte. Oder ein neues, schreckliches Problem aufwerfen könnte. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken, ich musste den Kleinen sehen und mich vergewissern, dass er sich nicht während seines Aufenthalts bei Utopia in jemand Unbekannten verwandelt hatte.

Vor Joshuas Zimmertür hielt ich inne, spürte plötzlich jemanden hinter mir und dessen Hand an meinem Oberarm. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, wusste auch so, dass es Ryan war, der ebenso angespannt wie ich wirkte.

Gut, dass er nun bei mir war. Seine Nähe gab mir die Kraft, die Tür zu öffnen und den kleinen, mageren Jungen anzusehen. Genau anzusehen, befahl ich mir, weil ich sichergehen musste, dass er wirklich er selbst war.

„Kathleen?" Seine Stimme klang kratzig und ihr fehlte der Elan, den ich von ihm gewohnt war. Doch sobald er Ryan und mich erkannte, setzte er sich auf und machte Anstalten, aufzustehen.

„Nicht, warte." Ryan drängelte sich an mir vorbei und hielt den Kleinen auf. Seine Hand auf Joshuas Brust wirkte merklich größer und er drückte ihn sanft zurück. „Bleib im Bett."

Ohne es zu bemerken, ging ich zu ihnen und ließ mich neben dem Jungen ins Bett fallen. Meine Hand wanderte wie von selbst an seine Stirn, prüfte die Temperatur und als ich sie wieder an mich nehmen wollte, hielt er sie an seine Wange. Sein breites Grinsen brachte mein Herz zum Springen.

„Dir geht es gut", stellte er fest und räusperte sich.

„Wir haben uns auch eher um dich gesorgt", warf Ryan ein. „Alles okay bei dir?"

„Ich denke schon", entgegnete der Junge, schaute aber weiterhin mich an. „Ich war ziemlich mutig, oder?"

„Ziemlich dumm, trifft es wohl eher." Ryans Knurren klang lieblos, leise und er schob mich ein Stück zur Seite, damit er dem Kleinen auf Augenhöhe begegnen konnte. „Wieso bist du zu Utopia gelaufen?"

„Um Kathleen zu helfen!" Das war seine Antwort und er zog eine Schnute. „So wie du."

Ryan seufzte und senkte den Kopf, sodass die vielen, feinen Strähnen in seine krause Stirn fielen. Wahrscheinlich konnte er ihm nicht wirklich böse sein, weil er vor nicht allzu langer Zeit denselben, überstürzten Fehler begangen hatte. Ich schmunzelte, obwohl mein Bauchgefühl nicht beruhigt war.

„So wie ich. Aha", erwiderte Ryan und zerzauste dem Jungen das Haar. „Und du dachtest, bei Utopia zu bleiben, sei eine gute Idee?"

Joshua schüttelte den Kopf.

„Wieso bist du nicht zurückgekommen?"

„Weil sie mich festgehalten haben."

„Und wie konntest du dann frei im Wald herumstreunen?", hakte Ryan weiter nach. „Immerhin sind wir dort aufeinander getroffen. Sie haben dich also nicht immer festgehalten, richtig?"

Joshuas Schweigen bedeutete nichts Gutes. Ich hielt an meiner ersten Eingebung, die ich bereits bei unserem Treffen, kurz nachdem Gideon für immer von dieser Welt verbannt worden war, fest: Gideon hätte ihn auch mitnehmen können. Denn ein Werwolf, den er einfach kontrollieren konnte, war in den Augen dieses Mistkerles ein guter Werwolf, der für ihn kämpfen könnte.

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