50: Verlorenes findet wieder zusammen

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„Wer bist du?", wiederholte ich meine Frage, weil er mir nicht antwortete, sondern sich weiter von mir entfernte.

Ich erschauderte, spürte das nahende Stechen in meiner Brust, das meine allgemein vorherrschende Verwirrung im negativen Sinne unterstützte. Dennoch hielt ich meinen Blick auf ihn gerichtet, weil ich Angst hatte, aber auch den Drang verspürte, mich ihm zu stellen.

„Kannst du oder willst du mir deinen Namen nicht verraten?"

„Ich ..." Er sprach nur das eine Wort aus und schloss seinen Mund wieder.

„Keine Ahnung, wer du bist, aber danke für die Hilfe eben."

Ich schluckte und erinnerte mich an seine Hand auf meinem Mund, konnte den harzigen Geruch seiner Haut noch wahrnehmen. Er spannte den Kiefer an, als müsste er sich zurückhalten, um nichts zu sagen. Da er mir meine erste, eigentlich wenig bedeutsame Frage nicht beantwortete, machte ich auf dem Absatz kehrt und wollte zurück zum Gebäude. Wenn er nicht reden wollte, schön. Dann konnte ich auch verschwinden und mir die unangenehmen Gefühle, die in mir aufkochten, sparen. Doch seine Hand griff meinen Oberarm.

„Hey, was soll das?"

Den Druck seiner Finger konnte ich durch den nassen Stoff meiner Kleidung spüren. Eine fremde Wärme flutete mich, die ein unsagbar benebelndes Kribbeln durch meinen Körper jagte. Nur mit Mühe und Härte gelang es mir, mich von ihm loszureißen. Als mein Blick seinen traf, erstarrte ich. Seine Hand haschte nach mir, aber ich wich aus und trat einige Schritte zurück.

„Du antwortest mir nicht und versuchst, mich festzuhalten? Ernsthaft?" Meine Stimme zitterte, obwohl ich so stark und mutig wie möglich klingen wollte.

Was wollte er von mir und wieso sprach er nicht? Seine blassblauen Augen musterten mich wehmütig. Wehmut? Ich runzelte die Stirn und war kurz davor, mich ihm wieder zu nähern. Ich kannte ihn doch gar nicht! Aus welchem Grund wollte ich, dass er mit mir redete?

Weil ich Antworten suchte und endlich ein bisschen Mut zusammenkratzen konnte, rief mir eine innere Stimme zu. Zu allem Überfluss kannte er meinen Namen, was mich weiter verunsicherte, aber diese Furcht musste ich schlucken. Ich atmete tief durch, zwang mich zur Vernunft. Eventuell kannte er meinen Namen nur, weil er für Utopia arbeitete.

Der Schmerz in meiner Brust ebbte ein wenig ab. Ich schaute von mir zu ihm und zuckte zusammen. Seine Hand hing vor meinem Gesicht in der Luft, als wollte er meine Wange anfassen.

„N... Nicht!", stammelte ich, sprang zurück und in die breite Pfütze, die sich zwischen Bürgersteig und Straße gebildet hatte.

Noch bevor ich mich über das Wasser in meinen Schuhen ärgern konnte, spürte ich zwei starke Hände unter meinen Armen, die mich rasch zurück auf den Gehweg hoben. Ich erstarrte in seinen Armen.

„Wer zur Hölle ... bist du und warum gehst du nicht einfach? Warum bist du hier? Warum beantwortest du mir keine Frage? Kannst du nicht sprechen?"

Ich wusste, dass er zuvor ein einzelnes Wort hervorgebracht hatte, aber es war mir gleich. Nicht einmal seinen Namen wollte er mir verraten. Ich hatte keine Lust und kein gutes Gefühl dabei, hier bei ihm zu bleiben.

„Ich verstehe es nicht! Das ist mir alles zu viel! Ich kapier gar nichts mehr und ..." Stöhnend griff ich mir an die Brust, bekam für ein paar Sekunden keine Luft und hätte schwören können, dass er meinen Namen rief. Ehe ich mich wieder aufrichten konnte, stand er bereits an meiner Seite, berührte mich allerdings nicht.

„Mein Name tut nichts zur Sache", knurrte er und mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinab.

Der Schauer nahm jeden Wirbel mit, federte sich geradezu von ihnen ab, um anschließend noch deutlicher über mich niederzurollen. Mein Fluchtinstinkt flackerte auf. Ich wollte weg. Ich musste weg.

Paws on GlassWo Geschichten leben. Entdecke jetzt