54: Im Norden ein Licht

3.5K 354 115
                                    

Ryans Augen weiteten sich, als sein Blick meinen traf. Ich zuckte zusammen, vergaß die Hitze in mir und konzentrierte mich nur auf ihn. Mein Atem ging schneller, seiner ebenso, denn seine Brust hob und senkte sich unkontrolliert. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht. Er war wieder ein Mensch und nackt! Die auf diese Erkenntnis folgende Hitze ähnelte nicht im Geringsten der, die mich vor wenigen Sekunden noch zu Boden gezwungen hatte.

„Eine Reaktion, mit der ich leben kann", seufzte er und entfernte sich scheinbar von mir.

Erwartungsvoll lugte ich zwischen meinen Fingern hindurch, sah nicht viel mehr als die Bäume und einige der Wölfe um mich herum. Sogleich wurde ich unruhig. Ich schaute mich um, verdrehte den Kopf und piepste auf, als er auf einmal hinter mir stand, immer noch nackt und eine Hand nach mir ausgestreckt. Noch bevor ich bemerkte, wie ich aufgesprungen war, drückte ich mein hochrotes Gesicht auch schon in den Pelz des silbernen Werwolfes.

„Ryan!", schallte Damians Stimme über die Lichtung. „Reiß dich zusammen. Sie ist verwirrt und überfordert. Nicht nur wegen ihren wiederkehrenden Erinnerungen, sondern auch weil sie ...."

„Weil sie sich verwandeln könnte, ich weiß! Dieses verdammte Blut in meinem Körper spürt es, spürt mein Herz in ihr und unsere Verbindung. Sie wird es ihr nicht unbedingt leichter machen", unterbrach ihn Ryan ungeduldig. „Aber deswegen muss sie sich nicht vor mir fürchten. Kathleen, bitte, komm zu mir."

„Du stehst splitterfasernackt hinter ihr, was denkst du denn, wie sie reagieren würde?", redete nun auch Gareth auf ihn ein. „Sie scheint mir noch sensibler als zuvor und dein Gedrängel hilft ihr nicht sonderlich." Der große Wolf brummte und machte ein paar Schritte vorwärts. „Ihr könnt euch im nächsten Haus Kleidung leihen. Folgt mir."

Der Alpha des Nordens führte uns zu einer kleinen Hütte am Fuße der ersten Gebirgshänge. In den Fenstern brannte bereits Licht. Einer nach dem anderen verschwanden Ryan, Damian und schließlich Gareth selbst in dem Häuschen, um sich etwas anzuziehen. Ich wartete draußen auf sie, bewacht von zwei braunen Wölfen, die ihre Distanz zu mir wahrten.

Die kühle Luft beruhigte mich ein wenig. Ich spürte diese Unschlüssigkeit in mir, obwohl mein Gedächtnis sich langsam wieder zusammensetzte. Aber meine Gefühle hinkten noch hinterher. Ich konnte das Vergangene verstehen, meine Emotionen nachvollziehen, aber sie plötzlich wieder abzurufen, funktionierte nicht. Gefühle ließen sich eben nicht an- und ausschalten. Vielleicht brauchte ich etwas Zeit, um mich wieder an sie zu gewöhnen. Hoffentlich brauchte ich einfach nur etwas Zeit.

Ich lehnte meinen Kopf gegen die Fassade der Hütte. Das spröde Holz zerzauste meine Haare und die kleinen Splitter zerrten an einzelnen Strähnen, während ich hinauf in den Himmel sah. Ich erkannte bereits die Sterne, ihr Licht noch ein zaghafter Schein, der sich durch das immer dunkler werdende Blau der Nacht bahnen wollte. Seufzend blickte ich zur Tür, weil ich ein Knacken gehört hatte.

„Wie geht es dir?", erkundigte sich Gareth, der nun eine schwarze Hose und Lederjacke trug.

„Nicht so gut", gestand ich, denn es war nun mal die Wahrheit. „Ich habe zwar meine Erinnerungen mehr oder weniger zurück, aber ich komme noch nicht ganz hinterher. Gideon, er hat mich ausgenutzt ... nein, er hat uns alle irgendwie ausgenutzt, vor allem Ryan." Ich schluckte schwer und schlang die Arme um meinen Körper. „Ryan konnte mich trotz der Folter und der Strapazen danach beschützen. Er hat sich nicht um seine Sicherheit gekümmert und ich? Ich hätte beinahe einen von euch umgebracht."

„Hast du aber nicht", versuchte er mich aufzumuntern, blieb jedoch vor der Tür stehen und lauschte aufmerksam, als könnte er die Stimmen im Inneren des Hauses verstehen. „Liebst du ihn noch? Liebst du Ryan noch?"

Paws on GlassWo Geschichten leben. Entdecke jetzt