>> Kapitel 6 <<

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Verwirrt warfen sich die Brüder einander Blicke zu. Im ersten Moment gingen sie davon aus, dass die Frau betrunken und gestolpert war. Sie fingen an breit zu grinsen, machten Scherze darüber, dass sie selten eine so besoffene Frau gesehen hatten.

Doch dann entdeckte Connor ihre blutige Hand.
„Sie hat sich verletzt", bemerkte er mit beunruhigter Stimme und ging in die Hocke.
Vorsichtig begutachtete er die junge Frau und versuchte sie anzusprechen. „Und hier ist überall Blut."
Murphy schaute über die Schulter seines Bruders und versuchte noch mehr von der Frau zu erkennen, doch die langen braunen Haare, die ihr vom Schweiß und Blut am Kopf klebten, verdeckten ihr Gesicht.
„Man, wie kann man sich nur so abschießen?", lachte Murphy amüsiert und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich dachte so etwas machen nur Kerle?"
„Hol ein Handtuch. Und Wasser", befahl Connor, der die Arme der Frau untersuchte und ignorierte den Scherz seines Bruders.
Er suchte die aufgeschundenen Stellen an ihren Unterarmen nach tieferen Schnitten und Wunden ab, doch er stellte fest, dass diese nur Oberflächlich waren.
Er fragte sich, woher dann das viele Blut stammte, wenn es nicht von den Armen kam.
Murphy, dessen Hirn, genau wie Connors, gut benebelt war, prustete und stakste zur Bar, um ein Handtuch und ein Glas Wasser zu holen.
„Die soll uns dafür bloß einen ausgeben", pfiff er und zeigte mit dem Kinn in ihre Richtung.
Connor grinste seinen Bruder breit an. „Mindestens."
Sie fingen an zu lachen und malten sich für einen Moment die unterschiedlichsten Weisen im Kopf aus, wie die Frau sich bei ihnen bedanken könnte.
Noch immer lag die Brünette auf dem Boden, regungslos, als wäre sie tot.
Dann glitt sein Blick zu ihren Handgelenken und er stellte mit erschrockener Miene fest, dass sie gefesselt war.
„Heilige Scheiße", presste Connor plötzlich hervor, als er sich ihre zugeschnürten Handgelenke näher ansah. Neugierig kam Murphy mit dem Handtuch und dem Glas Wasser um die Theke gelaufen und schaute seinem Bruder dabei zu, wie er die Handgelenke der Frau vorsichtig drehte. „Sie wurde gefesselt."
Trotz dieser bestürzenden Erkenntnis, erklärte es ihm noch immer nicht das viele Blut. Er suchte weiter und blieb schließlich mit seinem Blick an ihrem Bein hängen.
„Verdammt", fauchte Connor und verzog grimmig sein Gesicht. „Das ist eine Schusswunde."
„Sie wurde angeschossen?", fragte Murphy nun überrascht nach und hob verblüfft die Augenbrauen an. Damit hatten sie nicht gerechnet und augenblicklich machte sich bei ihnen beiden ein ungutes Gefühl breit. Gefesselte Handgelenke und eine Schusswunde? Die Gedanken an die Wiedergutmachung waren augenblicklich verschwunden.
„Hilf mir sie auf einen der Tische zu legen", wies Connor Murphy an, der augenblicklich das Glas wegstellte, sich das Handtuch über die Schulter warf und half, die Frau auf einen Tisch hoch zu hieven.
„Sieh dir ihre Arme und ihre Hände an", bemerkte Murphy besorgt und drehte die Hand der Frau vorsichtig in seiner. Er begutachtete die tiefen Striemen, die die Kabelbinder in ihrer Haut hinterlassen hatten. Die Betrunkenheit der Brüder war auf Anhieb verschwunden, als sie sich den Rest des Körpers von ihr ansahen. „Was wohl mit ihr passiert ist?"
Die Brüder tauschten besorgte Blicke aus und hatten ein ungutes Gefühl.
„Wir müssen das abbinden", erklärte Connor und zeigte auf das noch immer blutende Bein. „Die Kugel steckt noch im Bein."
Augenblicklich zog Murphy seinen Gürtel von seiner Hose und reichte ihm Conner. Dieser nahm ihn, wickelte ihn um das Bein der Frau und zog so fest zu wie er nur konnte.
„Schneide ihre Fesseln durch", sagte Connor und nickte mit seinem Kinn zu den Handgelenken vor sich. Murphy holte sein Klappmesser hervor und durchtrennte vorsichtig die Fesseln. Sofort fielen die Arme schlapp zur Seite.
Währenddessen fiel Murphys Blick auf den Wirrwarr von dunkelbraunen Haaren vor sich.
Er versuchte das Gesicht von ihr zu erkennen, doch der verzottelte Vorhang von Haaren ließ das nicht zu. Dennoch beschlich Murphy bei ihrem Anblick ein weiteres ungutes Gefühl. Es kam ihm so vor, als würde sie ihm bekannt vorkommen. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust, als er auf ihr Blutverschmiertes Ohr schaute, an ihrem Hals hinab, an dem eine kleine goldene Kette mit einem Glücksklee hing.
Nun setzte sein Herz einen Schlag aus und er stockte innerlich. Er kannte diese Kette.
Vorsichtig hob er also die Hand und strich die ersten Strähnen beiseite, die nach und nach immer mehr ihres verdreckten Gesichts preisgaben.
Mit jeder weiteren Strähne kam das Gesicht der Frau weiter zum Vorschein, bis Murphy irgendwann so viel erkennen konnte und ihm beinahe der Atem stockte. Sein Verdacht hatte sich bestätigt.
Sein Blick huschte über die vollen Lippen, der kleinen Nase, den mit kleinen Sommersprossen bedeckten Wangen und den geschlossenen Augenlidern.
Murphys Puls raste, als er vorsichtig seine Finger anhob und das Gesicht der Frau in seine zitternden Hände nahm. Jetzt bemerkte er auch den Schnitt auf ihrer Wange, das blau unterlaufene Auge und die aufgeplatzte Lippe.
Er kannte diese Frau. Kannte sie nur zu gut und so sehr sich ein Teil in ihm freute, dass er sie wiedersah, wünschte sich ein anderer Teil in ihm, dass nicht sie es war, die so zugerichtet wurde und bewusstlos vor ihnen auf dem Tisch lag.
„Connor", wisperte Murphy irgendwann zwischen seinen zusammengepressten Lippen hervor.
Er presste vor Wut die Kiefer aufeinander.
Diese reagierte jedoch nicht, war gerade dabei ihren geschwollenen Knöchel zu untersuchen.
„Conner", wiederholte Murphy, den Blick noch immer auf das zerschundene Gesicht der Frau unter ihm gerichtet. Sein Bruder überging seine leisen Rufe, weswegen Murphy lauter wurde. „Connor!"
„Was ist verdammt? Ich hab hier zutun!", keifte er, doch als er hoch sah und erkannte, welches Gesicht Murphy da zwischen seinen Händen hielt, hielt auch er inne und schaute ihn ungläubig an.
Sein Blick sprang hektisch zwischen dem Gesicht seines Bruders und dem der Frau hin und her.
„Das ist Becca", bestätigte Murphy mit trockener Stimme, schluckte schwer und schaute wieder hinab auf das regungslose Gesicht in seinen Händen.


Connor lehnte an der Wand und ließ seinen Blick über die bereits erhellte Stadt gleiten. Gedankenverloren beobachtete er die vielen Autos und die Menschen, die durch die Straßen liefen.
Das Einzige, was man in diesem Raum hören konnte, war die tickende Uhr.
Während Connor weiterhin regungslos und wie erstarrt aus dem Fenster blickte, saß Murphy mit wippenden Fuß auf einem Stuhl und starrte die Tür vor sich an.
Er rauchte bereits die dritte Kippe hintereinander und sein Bein schmerzte vom Dauerwippen, doch er konnte einfach nicht aufhören. Er hatte sich nach vorne gelehnt und sich mit seinen Armen auf den Knien abgestützt. Sein Hirn qualmte beinahe, weil er sich so Sorgen um Becca machte, welche auf der anderen Seite der Wand lag und sich – hoffentlich – von ihren Verletzungen erholte.
Sie hatten sie in Murphys Zimmer gebracht, nachdem sie sie nach Hause getragen und hier verarztet hatten.
In den darauffolgenden Stunden hatte er kein einziges Auge zugemacht. Er konnte an nichts anders denken, als darüber zu grübeln, was mit Becca wohl passiert war.
Noch nie hatte er sie in so einem Zustand gesehen, sie sah furchtbar aus, so leblos. Und das Schlimmste an all dem war, dass sie nicht wussten, warum nur Becca in die Bar kam und warum sie alleine war.
Wo war Liv?
Die beiden waren unzertrennlich, erinnerte sich Murphy. Sie machten nie etwas alleine und er war sich sicher, dass Becca nicht freiwillig alleine war.
Es kam ihm wie gestern vor, als sie ihren letzten Abend mit den beiden Schwestern verbracht hatten, bevor sich untergetaucht waren.
Er warf einen Blick zu seinem Bruder, der seit Stunden nun apathisch aus dem Fenster starrte.
Was in ihm wohl vorgehen musste? Becca so zu sehen und nicht zu wissen was mit Liv war oder wo sie steckte, musste ihn wahnsinnig machen.
Vielleicht ging es ihr ja auch gut, schoss es Murphy durch den Kopf. Vielleicht war nur Becca in Schwierigkeiten. Doch sogleich schüttelte er den Kopf. Dafür kannte er die beiden Schwestern zu gut. Er wusste – was die Eine tat oder sagte, das machte die andere genauso. Wo die eine war, da war auch die andere.
In diesem Sinne waren sie genau wie Connor und er.
Murphy wollte absolut nicht in Connors Haut stecken. Er kannte seinen Bruder – besser als jeder andere auf dieser Welt. Und er wusste, dass er sich unbeschreiblich um Liv sorgte. Nach all der Zeit, bedeutete sie ihm immer noch so viel. Genau wie ihm.
In all der Zeit, wurde Liv für ihn zu einer kleinen Schwester.
Murphy nahm einen letzten Zug an seiner Zigarette und drückte sie schweigend in dem Aschenbecher neben ihm aus.
Die Zeit, als die Heiligen hatte beide verändert. Sie wurden mit jedem Mal abgestumpfter und abgebrühter. Wie viele Verbrecher hatten sie bereits in Boston zur Hölle geschickt? So viele, dass sie es nicht einmal mehr zählen konnten.
Eigentlich wollten sie schon längst aus Boston verschwinden, denn es wurde ihnen schon ein einige Male zu heiß, doch Agent Smecker hatte es immer wieder geschafft die Ermittlungen in eine andere Richtung zu lenken.
Außerdem gab es da insgeheim noch zwei weitere Gründe, warum die beiden hierbleiben wollten, auch, wenn sie dies nie voreinander zugegeben hatten.
Und einer von ihnen lag hinter dieser Tür.

Murphy erhob sich von dem Stuhl und stellte sich zu seinem Bruder an das Fenster. Gemeinsam schauten sie hinaus und schwiegen.
Erst Minuten später erhob Connor seine Stimme und durchbrach die Stille.
„Wie geht's dir, man?", fragte er und warf seinem Bruder einen Blick zu. Dieser rieb sich mit den Fingern sein Kinn und schien nachzudenken.
Murphy zuckte mit den Schultern und nahm einen tiefen Atemzug.
„Ich will demjenigen einfach nur eine verdammte Kugel in die Fresse schießen", knurrte er düster und augenblicklich legte Connor eine Hand auf seine Schulter.
„Das werden wir", versicherte er ihm und drückte ihm leicht die Schulter.
Murphy wandte seinen Blick kurz zu ihm und nickte schweigend.
Auf einmal vernahmen die beiden ein Poltern aus dem Nebenzimmer und wandten sich schlagartig zu der Tür um.
Nach einem kurzen ausgetauschten Blick stürmten sie regelrecht auf die Tür zu und rissen sie auf.
Becca lag mit schmerzverzerrtem Gesicht neben dem Bett und hielt sich krampfhaft an der Matratze fest.
„Stehen bleiben!", rief sie mit lauter Stimme und streckte ihre Hand Richtung Tür aus. Ihre Haare hingen ihr immer noch wirr vor dem Gesicht und Murphy wunderte sich nicht, wieso sie dann vom Bett gefallen war.
In ihrer Hand hielt sie Murphys Taschenmesser, welches er heute Nacht auf dem Nachttisch hatte liegen lassen.
Becca mühte sich ab sich vom Bett hochzustemmen und auf ihren wackeligen Beinen zum Stehen zu kommen, dass sie die beiden nicht einmal richtig anzusehen schien.
Die beiden kamen einen Schritt näher auf sie zu, doch sogleich hielt sie wieder das Taschenmesser hoch. Sie sah sich verwirrt in dem Raum um und schien hektisch zu werden.
„Becca", machte Connor einen vorsichtigen Versuch ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und ihr deutlich zu machen, dass die MacManus Brüder vor ihr standen. „Wir sind's. Connor und Murphy."
Bei den Namen schreckte sie hoch, drehte sich zu ihnen herum und starrte sie fassungslos an. Langsam strich sie sich ihre Haare aus dem Gesicht und blinzelte mehrere Male verblüfft.
„Ihr...ihr...seid..." Ihre Stimme war brüchig und ihre dunklen Augen musterte sie noch immer ungläubig. Sie machte einen Schritt auf sie zu, genau wie die beiden auf sie, als sie aufgrund ihres verletzten Beines nach vorne taumelte. Sofort streckte Murphy seine Arme aus, um sie aufzufangen.
Er hielt ihren Körper davon ab auf dem Boden aufzuschlagen und holte sie wieder auf ihre Füße.
Als sie ihren Kopf hob, schlug ihm ihr Geruch ins Gesicht.
Sie war ihm so nahe wie lange nicht mehr.
„Ihr...ihr...", stammelte sie wieder und schluckte Zusehens schwer.
Becca schaute verwirrt zwischen Connor und Murphy hin und her, welche nun begannen vor Erleichterung zu lächeln.
„Becca. Du bist in Sicherheit", versicherte ihr Connor, während Murphy sie vorsichtig wieder vollkommen auf ihre eigenen Beine zu stellen versuchte.
„Das...das ist", wimmerte sie noch immer mit einem erstaunten Gesichtsausdruck. Und dann – von der einen auf die andere Sekunde – schlug ihre verblüffte Miene in eine grimmige um und ihre Stimme wurde lauter. „Eure schuld!"
Und noch ehe die beiden Brüder etwas machen konnten, verpasste Becca zuerst Murphy einen Schlag ins Gesicht und gleich darauf dem perplex dreinschauenden Connor. Überrascht taumelten beide einen Schritt nach hinten und hielten sich ihre Hände vors schmerzende Gesicht.
„Was zum Teufel sollte das? Was meinst du damit?", fragten die beiden überrumpelt und tauschten einen verwirrten Blick aus. „Was ist unserer schuld?"

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