Kapitel 18- Home sweet Home Scarlett

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Scarletts Sicht: Emma reiste Freitag ab, Tanner ebenso, und Alec nahm den Flug am Samstag Morgen.
Da mein Zug um 10:06 Uhr ging, traf sich das gut, denn die New Haven Station lag mehr oder weniger auf dem Weg zum Tweed New Haven Regional Airport und wir teilten uns ein Taxi, bis ich es dann als erste verließ.
Ich kramte mein Geld zusammen und wollte es ihm geben, aber er winkte ab. "Ist schon okay, das geht auf mich. Hab ein schönes Thanksgiving, Scarlett..."
Ganz der Gentleman hielt er auch die Tür für mich auf.
"Hab du ein schönes 2 Monate verspätetes Harvest Festival", verabschiedete ich mich mit einem Grinsen, und wollte zum Kofferraum gehen und meinen Koffer holen, aber sowohl der Taxifahrer als auch Alec kamen mir zuvor.
"Dankeschön", noch einmal sah ich in die interessanten schwarzen Augen des Briten, bevor ich mich letztendlich mit den Worten "dann bis nächste Woche" auf den Weg zu meinem Gleis machte.

Der Zug war überfüllt. Natürlich war der Zug überfüllt.
Es war der Samstag vor Thanksgiving, was hatte ich erwartet.
Ich wünschte mir, es hätte nicht 20 Dollar extra gekostet, einen Sitzplatz zu reservieren, denn dann hätte ich jetzt wenigstens einen gehabt.
Überfordert schob ich mich durch die engen, von Menschen übersäten Gänge, in denen ich noch nichtmal Platz für meinen Koffer fand. Ich fühlte mich wie in Indien oder sonst einem Land, wo die Züge dermaßen voll waren, und konnte für den ersten Sechstel der voraussichtlich 5-6 stündigen Reise nichts tun, außer im Gang zu stehen.

Als nach etwa einer Dreiviertelstunde (die sich wie 10 Stunden anfühlte), einem Halt in Maryland und allmählichen Rückenschmerzen vom unbequem neben dem Gepäck rumhängen und sich nur mäßig anlehnen können endlich ein paar Sitzplätze frei wurden stürzte ich augenblicklich darauf zu, wie es auch die anderen Leute taten, die gezwungen gewesen waren zu stehen. Ich war schnell genug, mir einen Sitzplatz zu sichern und Erleichterung überkam mich. Mein Rücken und meine Füße dankten mir die Entlastung, und da ich die letzten 45 Minuten mit nichts außer Musik hören verbracht hatte (im Stehen konnte man so schlecht etwas anderes tun), hörte ich das Album Magical Mystery Tour noch zu Ende und holte dann das Rätselheftchen heraus, welches ich mir noch schnell am Bahnhof in New Haven gekauft hatte, bevor der Zug gekommen war.
Während "I am the walrus" in der dritten Wiederholung gerade noch ausklang, und ich mir noch überlegte, ob ich lieber mit dem Geschichts- oder dem Science-Kreuzworträtsel anfangen sollte, wurde jedoch meine neu gefundene Entspannung auch schon wieder zerstört.
Ein schmierig wirkender alter Typ mit einem Schwabbel-Bauch von immensen Ausmaßen ließ sich ohne zu fragen auf dem Platz neben mir nieder und mir stieg ein unangenehmer Geruch zusammengesetzt aus Bier, Schweiß, Zigaretten und Undefinierbarem in die Nase.
Ich rutschte ein Stück näher ans Fenster, um nicht mit seinem Bein in Berührung zu kommen und in der irrationalen Hoffnung, der Geruch wäre 10 cm weiter links nicht ganz so stark.
War er aber doch.
Das noch ganze 4 Stunden? Ich dachte darüber nach, dass V am Anfang des Semesters gesagt hatte, sie würde mir Thanksgiving einen Flug nach D.C. bezahlen... tja, das war anders gekommen.

Meiner Stimmung entsprechend wählte ich den Song "Misery" aus und begann letztendlich lustlos mit dem Geschichts-Kreuzworträtsel.
"Sonnenkoenig" wurde Ludwig der XVI auch genannt. 7 war also ein N...

Der fiese Typ stieg immerhin nach 3 1/2 Kreuzworträtseln und einem mittelschweren Sudoku sprich knapp einer Stunde endlich aus.
Zuvor hatte ich aber wenigstens noch herausbekommen, wie man das Fenster einen Spalt öffnete, und mein Parfum noch einmal aufgefrischt (Dad hatte es mir zum College-Anfang geschenkt: Vera Wang - Princess), was den Geruch um mich herum zwar aushaltbar, aber trotzdem noch nicht komplett angenehm machte.

Entspannen konnte ich mich dann aber bedauerlicherweise auch mit meinem nächsten Sitznachbarn (beziehungsweise Sitznachbarin) nicht, denn es handelte sich um eine Frau im mittleren Alter, die mit ihren Freundinnen unterwegs war und durchgehend schnatterte.
"Findet ihr es auch so schwierig, Urlaube auszusuchen? James gibt mir immer verschiedene zur Auswahl, und ich konnte mich für den Weihnachtsurlaub dieses Jahr partout nicht entscheiden zwischen Skifahren in Aspen, Mauritius oder Paris. Ich hasse ja Entscheidungen, obwohl James es ja nur gut meint, mir eine Wahl zu geben, aber es ist so schwer!"
Kotz kotz. Die hatten Probleme!
Ich verdrehte die Augen, während ich mich zum Fenster drehte und beschloss ein wenig zu lesen, was sich allerdings schnell als Schnapsidee herausstellte: bei diesem ununterbrochen faselnden Hühnerhaufen, allen voran die Frau neben mir, musste man jede Seite mindestens 3 mal lesen, weil Konzentration auf ein Buch einfach nicht möglich war.
"...und dann war James neulich auf Geschäftsreise in... Indien? Vielleicht auch Israel, ich bin mir nicht mehr ganz sicher, kann auch Istanbul gewesen sein, ist ja alles ziemlich ähnlich..."
Oh gütiger Gott, womit hatte ich das verdient?
"Und dann auf dem Rückflug, da saßen doch tatsächlich zwei Zwillings-Kleinkinder neben ihm! Und sie haben so laut geschrien, der arme James, sie haben ihn so genervt, er hätte sie am liebsten umgebracht!"
James und ich hätten bestimmt eine ausführliche Unterhaltung über nervige Sitznachbarn im Fernverkehr führen können. Ich konnte seine Gefühle aus der Geschichte jedenfalls gerade sehr gut nachvollziehen.

Zu guter letzt blendete ich das entnervende Weib neben mir mit einer guten Dosis "Revolution" aus meinem IPod aus, denn über diese Gitarrentöne konnte man selbst sie nicht mehr hören.

Die Durchsage des Zugführers kam als lang ersehnte Erlösung.
Dass sie David Bowies "Major Tom" in der 2. Wiederholung unterbrach, bei welchem ich mit meiner Musik mittlerweile angelangt war, konnte ich ihr da auch verzeihen.
Die neu erlangte Lebensenergie floss durch mich hindurch und da die Oberbonzen-Vorstadtweiber vermutlich noch lange nicht zu Potte kommen würden, warf ich meinen IPod in meinen Marvel-Rucksack, schlängelte ich mich mit einem "darf ich mal" von meinem Fensterplatz auf den Gang und schob mich mit den dort stehenden Leuten vorwärts, auf dem Weg zu meinem Koffer und dem Ausgang.
Hinter mir bekam ich von den nervigen Frauen noch mit, dass der Koffer einer Frau namens Kirsty zu klemmen schien, und sofort war wieder Alarm im Hühnerhaufen.

Meine Beine waren, obwohl seit 5 Stunden unbenutzt, ganz hibbelig und ich spähte während ich im Gang wartete über den Bahnsteig, ob ich Dad irgendwo erkennen könnte.
Tatsächlich hatte ich ihn bald in der Menge ausgemacht: ergraute Haare, gerade Haltung, unauffällige Kleidung, ein erwartungsvolles Grinsen im Gesicht, einen Kaffee oder Tee von Starbucks in der einen Hand und eine verheißungsvolle Papiertüte in der anderen.

Sobald die Zugtüren sich endlich öffneten, und die Menschen vor mir herausgeströmt waren, betrat ich aufgeregt den Bahnsteig und versuchte mich zu orientieren. Wo war Dad jetzt genau?
Bevor ich ihn jedoch suchen konnte drang bereits seine vertraute Stimme an mein Ohr: "Scarlett, Prinzessin, da bist du ja!"
Die erste Umarmung seit 3 Monaten folgte, und mir fiel auf, dass wir noch nie solange getrennt gewesen waren.
Aber jetzt war ich hier, und obwohl es erst der Bahnhof von Quantico war und noch nicht unser Haus, war ich bereits nach Hause gekommen.

Der Becher in Dads Hand stellte sich als eine Candy Cane Hot Chocolate für mich heraus, und die vielversprechende Papiertüte beinhaltete mein persönliches kulinarisches Paradies: weiße Schokolade Macadamia Cookies!
Und außerdem ein Sugar Cookie in Form eines Einhorns.
Lachend holte ich ihn aus der Tüte und betrachtete ihn genau.
"Hab ich mir gedacht, dass die Kekse dir gefallen würden", stellte Dad grinsend fest.
Manchmal vergaß er vielleicht kurz, dass ich nicht mehr 7 war, aber was war schon dabei? Gegen Einhorn-Cookies hatte ich schließlich auch mit 17 nichts einzuwenden.
Im Gegenteil.

Zuhause wartete Marie schon maunzend hinter der Türe.
Dad hatte kaum aufgeschlossen, und schon kam sie herausgezischt und lief eilig an uns vorbei - bis sie realisierte dass ich da war.
Marie rieb zur Begrüßung ihre weiße, flauschige Wange an meine Hand und ließ sich dann sogar für fast 2 Minuten von mir auf den Schoß nehmen, bevor es ihr zu viel wurde, wobei ich auch gleich das Wohnzimmer betrachten konnte.
Das durchgesessene alte Sofa war immer noch gemütlich, das Licht vielleicht ein bisschen funzelig, aber damit hatte ich gerechnet.
Dafür bemerkte ich, dass Dad aufgeräumt hatte.

Würdet ihr lieber bei V oder Scar wohnen? 💕

Bis sie stirbt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt