◆2| S t u d e n t◆

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In Zeiten da Täuschung und Lüge allgegenwärtig sind, ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt

|George Orwell|

Eine unausgesprochene Anspannung füllte die Atmosphäre, unterstrichen durch die umherwirbelnden teuren Düfte der einzelnen Familienmitglieder, die mit mir nun im Esssaal am großen Tisch Platz genommen hatten und vornehm darauf warteten, dass die Bediensteten uns das Dessert, nach dem Hauptgang, dem Gaspacho und den gebratenen Garnelen, servierten. Bis die Teller jedes einzelnen nicht gefüllt waren, durfte nämlich keiner mit dem Mahl beginnen, so lautete einer der strickten Regeln von Papá. Alle zusammen und keine Sekunde eher, hatte er gepflegt uns seit unserer Kindheit immerzu auf unsere Tischmanieren aufmerksam zu machen, doch auch das schaffte es nicht mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Während ich mich an meinem Stuhl nach hinten sinken ließ und meinem Atem lauschte, der sich allmählich regeneriert hatte, wollte weder meine eingenommene angespannte Positur von mir lassen, noch meine verspannten Gesichtszüge erweichen. Ein Blick zu Papá ganz am anderen Ende des Tisches bestärkte meine Haltung, sodass ich einen Augenblick lang, weder das sanfte, aber doch recht ungeduldige Tippen an meinem Bein spürte, welches offensichtlich von Delilah stammte, die sich wie immer am Tisch neben mich gesetzt hatte, noch mich vom mahnenden Blick einschüchtern ließ, der von Elias auf der anderen gegenüberliegende Seite des Tisches auf mich gerichtet war und soviel zu bedeuten hatte wie: Lass es gut sein Amalia. Einen schlafenden Wolf solltest du lieber nicht wecken.

Da mir durchaus bewusst war, dass sobald Elias kupferfarbigen Augen mit meinen kollidieren, ich wieder schwach werden und all meine strickten Vorsätze über Bord werfen würde, zwang ich mich nicht Mal ansatzweise in seine Richtung rüberzublicken, trotz, dass mir seine Körperhaltung aus dem Augenwinkel mehr als kenntlich machte, dass ihm mein Ignorieren seiner Wenigkeit ganz und gar nicht zu gefallen schien.

Das würde ich später klären, dachte ich mir. Denn so wie ich Elias kannte, konnte er mir gegenüber nie lange den beleidigten großen Bruder vorspielen. Außerdem wusste ich natürlich auch, dass er dies alles nur deshalb tat, um mich zu beschützen. Denn schon von klein auf, seit ich mich erinnern konnte, hatte er immerzu für die Fehler von Raúl gerade gestanden und hatte dabei all die Strafen auf sich genommen ohne sich je zu beklagen. Mit schweren Schritten war er dabei jedes Mal mit Papá in seinem Büro verschwunden und als er wieder rauskam, hatte er geschwiegen. Bis heute hatten Raúl und ich es nicht aus ihm herausbekommen können, was hinter den harten verschlossenen Türen vonstatten gewesen war.

Das mulmige Gefühl, dass sich jedes Mal bei diesen Erinnerungen an die Vergangenheit in mir ausbreitete, wurde in dem Moment verjagt, als Papá am Tischende endlich meinen Blick erwiderte. Wie immer wirkte sein Blick klar, aber dennoch undurchdringlich. Fest, aber doch steinhart. Augenblicklich presste ich meine Lippen aufeinander, als ich an die kleine Auseinandersetzung von vor nicht einmal einer Stunde in seinem Büro zurückdachte.

Meine Augen wanderten konstant von links nach rechts, immer wieder vor und zurück, um die energischen Laufschritte Papás zu verfolgen, der sich aufgelöst mit der einen Hand an die Stirn gefasst und die andere an seinem Lackledergürtel an der Hüfte abgestemmt hatte. Nachdem ich die Bombe hatte platzen lassen, dass der vermeintliche Einbrecher sich gestern in meinem Zimmer aufgehalten, sich regelrecht vor meinem Bett positioniert hatte, hatte jeder einzelne, der mit mir Anwesenden das ganze anders aufgefasst und dementsprechend auch sehr unterschiedlich reagiert. Zuerst hatte ich das erschrockene Aufatmen von Raúl unmittelbar neben mir wahrgenommen. Der nächste, der eine Verhaltensweise zu meinem Ausgesprochenen zutage legte, war Papá gewesen, der sich gefährlich langsam erneut den Wachmännern zugewandt hatte, die hingegen bei meinen Worten noch mehr in sich zusammengesunken waren, weil sie wussten, dass ihnen eine saftige Predigt bevorstehen würde. Letztlich war es aber dann Elias gewesen, der sich von der Starre, die meine Worte verursachte, gelöst hatte, mit festen Schritten zielstrebig auf mich zugekommen war, mich vorsichtig in den Arm zu sich gezogen hatte und mich gefragt hatte, ob es mir gut ginge. In Anbetracht dessen, dass ich kerngesund vor ihm stand, war die rhetorische Frage zwar mehr als eintönig, aber nichtsdestotrotz hatte ich seine Sorge um mich geschätzt, da er selbst als neu gewordener Vater viel um die Ohren hatte.

His At NightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt