3. Kapitel

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Es waren schon ein paar Tage seit dem Unfall vergangen, und das Laufen fiel mir auch nicht mehr so schwer wie am Anfang. Eine Krankenschwester betrat den Raum und kam zu mir an's Bett. "Wie fühlst du dich heute?" Meine Antwort war ein genuscheltes 'ganz gut', woraufhin die Dame eine ernste Miene aufsetzte und mir Bericht erstattete: "Als der Autofahrer euch die Vorfahrt nehmen wollte, ist er leider direkt in deine Mutter gefahren." Sie machte eine kurze Pause "Die Beine deines Bruders wurden eigequetscht und teilweise gebrochen... Um wieder zu deiner Mutter zu kommen: sie... hat diesen Unfall nicht überleben können. Dafür wurde sie zu stark getroffen." "WAS?! NEIN! Nein..." Tränen über Tränen schossen aus meinen Augen, ein unerträgliches Gefühl erfüllte mich und meine Seele. Die Krankenschwester eilte aus dem Zimmer und ließ mich, Joulina und meine Frust alleine im Raum. Durch mein gequältes Schluchzen erwachte meine Zimmergenossin aus dem Halbschlaf und sah erschrocken zu mir auf. "Was ist los? Brauchst du Hilfe?" Sie kam schnell an mein Bett und legte ihren Arm um meine Schulter. "Meine Mutter... ist tot!" Halb gesprochen, halb gewinselt kamen die Worte aus meinem Mund, was sich alles andere als gut anfühlte. "Oh mein Gott! Hey...", sie war sichtlich überrascht, obwohl ich bei den vielen Tränen gar nichts mehr erkennen konnte, war dies mir klar. Zwei Arme umschlungen mich und ein dazugehöriger Kopf legte sich auf meiner Schulter ab. Mein Körper war gekrümmt, durch den großen Schmerz, der mich übermannte. Die schönsten Erinnerungen an meine Mutter und mich kamen mir in mein Gedächtnis:

Wie wir gegen James und meinen Vater in Monopoly gewonnen hatten, obwohl wir sonst immer verloren hatten;
Wie wir um die Wette Tretboot gefahren sind;
Wie wir aus dem 'Camp für Mutter und Tochter' geschmissen wurden, weil wir uns zu viel daneben benommen hatten...

Und auf einmal war sie weg, nur wegen diesem Idioten, der meinte, er müsse uns mit übler Schnelligkeit die Vorfahrt nehmen. Eine gefühlte Ewigkeit verharrten Joulina und ich auf dem Bett, als sich wieder die Türe öffnete. Ich konnte die Personen zuerst nicht erkennen, doch dann sah ich meinen Vater mit einer der Krankenschwestern auf mich zukommen. Joulina hatte sich bereits von mir gelöst, als sie an meinem Bett ankamen und mein Vater hatte - warscheinlich genau wie ich - verweinte, rote Augen, aus denen immernoch vereinzelte Tränen kullerten. Schweigend setzte er sich zu mir, lehnte sich vor und umarmte mich. Wir schafften es jedoch, nicht wieder anzufangen zu weinen - beziehungsweise winseln und jammern. Die Nachricht wurde mir und meinem Vater am selben Tag übermittelt, damit wir uns gegenseitig stützen und trösten konnten. James war damals noch nicht in der gewünschten Verfassung, also wurde er erst ein paar Tage später informiert. Ich brauchte lange, um mich wieder zu erholen - zumindest für's Erste. Ein paar Stunden schlief ich, dann wachte ich durch das leise Quietschen der Türangeln auf. Ich dachte zuerst, es wäre Besuch für Joulina, aber kurz darauf erkannte ich Timo, der mit angespannter Miene die Türe hinter sich in das Schloss fallen ließ und zu mir kam. "Hey.", begrüßte er mich "Bestimmt wunderst du dich, warum ein Typ wie ich zu dir kommt..." etwas verlegen senkte er den Kopf und fasste sich in den Nacken. "Ich wusste von einer der Krankenschwestern, dass du mich besuchen wolltest", brach ich die Stille. Timo setzte sich auf mein Bett und sah mich mit so viel Bewunderung und... Liebe an, dass man fast in die Tiefen seiner Augen fallen hätte können. "Ich habe mir Sorgen um dich gemacht! Und um James.", während dieses Satzes schaute er mir immernoch ununterbrochen in die Augen. Erst da viel mir auf, wie klar blau seine Augenfarbe war. Als er merkte, dass er mich die ganze Zeit angestarrt hatte, schaute er schnell auf seine Hände und langsam wieder zu mir. Ich setzte mich auf, wobei mir eine Haarsträhne in's Gesicht viel, woraufhin Timo sie hinter mein Ohr sortierte. Oh. Mein. Gott. Von da an war mir klar - er empfand etwas für mich, aber ich nicht umgekehrt. Also räusperte ich mich und schaute weg. "Entschuldige... Ich wollte mich nicht aufdrängen.", stotterte mein Besucher, woraufhin sich Joulina zu Wort meldete: "Ich glaube, es ist für dich Zeit zu gehen." Sie ging zur Tür und öffnete sie fordernd, und Timo löste sich sogar vom Bett, verabschiedete sich von mir und stapfte heraus. Die Tür schloss sich wieder und Joulina ging zurück zu ihrem Bett. "Wer war das?", fragte sie neugierig und bekam von mir zur Antwort: "Er ist in meiner Klasse, aber sonst habe ich eigentlich nichts mit ihm zu tun. Übrigens: Danke für dein Einschreiten." "Gerne." Es wurde wieder ruhig, doch dann kam mir eine Idee... "Ich bin bald wieder da.", verabschiedete ich mich und ging raus auf den Gang, und suchte einen Arzt oder eine Krankenschwester.

Als ich einen jungen Arzt sah, sprach ich ihn an: "Können sie mir sagen, wo sich James Millhausers Zimmer befindet?" "Ämm... Raum 490.", als ich ihn verständnislos ansah, fuhr er fort: "Hier den Gang geradeaus, bis ein Weg nach links führt. Da müsste irgendwo weiter hinten rechts sein Zimmer sein." "Danke!", und schon war ich wieder weg. Schon bald kam der Gang nach links, in den ich abbog und bei jedem Schild an der Tür von rechts die Zahl mitflüsterte, bis ich endlich bei Raum 490 ankam. Ich klopfte laut an und öffnete ohne auf eine Antwort zu warten die Tür. Da war er auch schon. James. Er lag im hinteren Bett und hatte keine Verbände mehr um die Beine gewickelt, was mich zuerst sehr freute. "Selina! Was machst du denn hier? Komm doch zu mir." Ich ging an sein Bett und begrüßte ihn, froh, ihn wieder zu sehen. "Wie geht es dir, James?" "Nicht so gut. Ich kann seit dem Unfall meine Beine nicht mehr spüren. Und das werde ich wahrscheinlich auch nie wieder.", antwortete er bedrückt. "Das ist ja schrecklich! Musst du dann für immer im Rollstuhl sein?!", entsetzt starrte ich ihn an. "Ja. Ich muss auch jeden Tag so Übungen mit den Armen und Händen machen, damit ich sie weiterhin gut benutzen kann. Mit der Zeit gewöhne ich mich auch schon etwas daran, aber es ist dennoch Scheiße." "Du Armer... aber ich verspreche dir, ich werde mich so gut ich kann um dich kümmern, verstanden? Und ich werde dich jeden Tag besuchen.", ich war so überzeugt von meiner Aussage, dass es mich umso mehr verwunderte, als James loslachte. "Das wirst du niemals einhalten. Ich kenne dich doch!" Seine Worte hatte ein Lachen begleitet, das jetzt wieder laut durch den Raum hallte. Aber ich musste leider zugeben, dass er irgendwie schon Recht behielt. Trotzdem nahm ich mir vor, ihm zu helfen wann immer es nötig war. Er war nunmal mein Bruder, der mich mein ganzes Leben lang schon begleitete und mir schon früher immer geholfen hatte, wenn jemand mich geärgert hatte. Ich sah es als Pflicht, ihm beizustehen.

Ein etwas anderes LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt