12. Kapitel

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Wieder zu Hause angekommen duschten wir uns mit warmen Wasser, damit wir uns keine Erkältung durch das eisige Wasser einfingen. Als wir beide fertig waren, half ich James die Treppe herunter. "Wirst du eigentlich auf diesen Schulball am Montag gehen?", fragte er mich beiläufig. "Glaube nicht. Du etwa?"
"Nun ja...", fing er leicht beschämt an. "Da ist dieses Mädchen aus meiner Klasse... Ich weiß aber nicht, ob sie mit mir gehen will. Bitte hilf mir, Selina!" Flehend blickte er mir in die Augen, als wir unten angekommen waren. "Frag' sie einfach. Was soll schon schief gehen?", erwiederte ich schulterzuckend. Ein leises 'okay' ertönte, während ich den Rollstuhl in James' Zimmer neben der Treppe schob. "Wenn du hingehst gehe ich auch. Mal sehen, ob es vielleicht doch unterhaltsam wird.", überlegte ich laut. Daraufhin meinte James lächelnd: "Ich habe gehofft, dass du das sagst! Du bist jetzt schon ein Jahr lang total abgegrenzt von der Menschheit gewesen. Leute um dich herum werden dir bestimmt helfen."  Ich saß auf dem Bett meines Bruders als er das sagte. "Du redest, als wäre es eine Krankheit!", stellte ich fest. Doch er zuckte nur mit den Schultern und blickte auf den Boden. "Aber wenn du schon mitkommst, Selina, brauchst du unbedingt ein fluffiges Ballkleid.", wächselte er das Thema. "Okay. Morgen gehen wir zwei einkaufen. Einen Anzug werden wir für dich auch gleich kaufen.", willigte ich ein und ging die Treppe hoch in mein Zimmer. Dort zog ich meinen Pyjama an, putzte im Bad meine Zähne und bürstete die Haare. Morgen war Samstag, also konnten wir zum Glück ausschlafen.

Als ich eingeschlafen war spielte sich schon bald ein Traum vor meinen Augen ab:
James lief rechts von mir und links begleitete uns unsere Mutter. Wir betraten einen Laden der mit Ballkleidern, Anzügen und Zubehör wie Haarreifen oder Armbändern gefüllt war. Ich probierte ein paar Kleider an und entschied mich dann für ein lilanes typisches Ballkleid. Danach fuhren wir nach Hause, doch bei einer Kreuzung traf ein Auto in die Seite von unserem. Ein Schrei ertönte und alles drehte sich.

Erschrocken wachte ich auf und versuchte meinen beschleunigten Atem zu beruhigen. Es war noch dunkel, aber da ich nicht mehr einschlafen konnte setzte ich mich an das Fenster und wartete auf den Sonnenaufgang. Die Strahlen arbeiteten sich den Himmel herauf, doch es wurde langsam langweilig. Ich stand auf und suchte in den Kisten das Fotoalbum von vor zwei Jahren, als meine Mutter noch lebte und James noch laufen konnte. Auf den Fotos waren wir im Urlaub am Strand und grinsten in die Kamera oder blickten verträumt in die Ferne. Bei einem schubste ich meinen Bruder gerade in das Wasser, während er mich erschrocken und mit ausgestreckten Armen anstarrte.

Nach einer Weile klopfte es an der Tür und mein Vater betrat das Zimmer. "Guten Morgen, Selina. James schickte mich um dir zu sagen, dass er jetzt gerne mit dir einkaufen gehen möchte. Zieh' dich lieber schnell um - deinen Bruder lässt man nicht warten." Er lachte kurz und ging dann wieder, aber er hatte Recht: meinen Bruder ließ man wirklich nicht warten.

Als ich die Treppe herunterlief wartete er schon genervt auf mich. "Das hat aber lange gedauert! Wir verpassen bestimmt den Bus.", meckerte er. "Der kommt doch erst in zehn Minuten und wir brauch nur fünf zur Bushaltestelle.", konterte ich. Gelassen nahm ich die Griffe an James' Rollstuhl und verließ mit ihm das Haus.

Zehn Minuten später kam unser Bus und der Busfahrer klappte die Schanze für den Rollstuhl runter. Ich bedankte mich und rollte vorsichtig meinen Bruder nach oben in den Bus. Es waren auch ein paar andere Leute da, die uns die ganze Zeit anstarrten und beobachteten. Als es mir endgültig auf die Nerven ging starrte ich jedem Einzelnen nacheinander böse in die Augen. Diesen Trick verwendete ich jedes Mal, wenn uns jemand angestarrt hat, und das seit dem Unfall.

Als wir in der Stadt ankamen irrten wir zuerst umher, bis wir den richtigen Laden fanden. Ich nahm mehrere Kleider mit zur Umkleidekabine, doch ich fand keine Kabine die groß genug für den Rollstuhl war. Als mir eine Mitarbeiterin über den Weg lief sprach ich sie sofort an: "Entschuldigen Sie, gibt es hier zufällig eine Umkleidekabine für Rollstuhlfahrer?" Mit einem musternden Blick auf James führte uns die junge Dame durch ein Kleiderlabyrinth, bis wir schließlich am anderen Ende des Ladens vor einer größeren Umkleide waren. "Vielen Dank.", bedankte ich mich und betrat diese mit meinem Begleiter. Als er sich schon längst für einen Anzug entschieden hatte suchte ich immernoch das richtige Kleid.

Viel Zeit war vergangen, doch dann erblickte ich ein blaues, langes Kleid mit weißen Details. Sofort probierte ich es an und war positiv Überrascht. Es sah einfach wunderschön aus. Glücklich bezahlten wir die beiden Kleidungsstücke und informierten uns dann, wann der nächste Bus zu uns nach Hause fuhr. Wir warteten an der Bushaltestelle ein paar Minuten und stiegen dann in den Bus ein.

Zu Hause angekommen präsentierten wir unserem Vater stolz die Kleidung. "Ihr werdet wunderschön aussehen!", staunte er fröhlich. Strahlend ging ich in mein Zimmer. Auf einmal rutschte ich aus und stieß meinen Hinterkopf an der Bettkante. Starker Schmerz meldete sich und Tränen traten in meine Augen. Meine Sicht wurde dunkler bis ich nichts mehr sah. Hilflos versuchte ich etwas zu erkennen, doch es brachte nichts. "Papa!", schrie ich angsterfüllt. Ich hörte das Öffnen der Tür und wie sich der Atem meines Vaters verschnellerte. "James! Ruf' den Krankenwagen!", forderte er. "Selina, was ist passiert?" "Ich... Ich habe mir nur den Kopf gestoßen. Bitte mach, dass ich wieder sehen kann.", schluchzte ich überfordert.

Wie nach dem Autounfall wachte ich auch jetzt im Krankenhaus auf. Ich sah links am Bett meinen Vater sitzen, aber ich konnte irgendwie nur eingeschränkt sehen. Als ich James' Stimme hörte, drehte ich meinen Kopf nach rechts, um ihn sehen zu können. "Warum sehe ich nur so wenig?", wollte ich in Erfahrung bringen. "Geht das irgendwann wieder weg?" "Schatz...", stotterte mein Vater mit bedrücktem Unterton. "Du bist von jetzt an auf einem Auge blind."

Ein etwas anderes LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt