13. Kapitel

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"Was?! Für immer?!", geschockt sah ich abwechselnd meinen Vater und meinen Bruder an. "Wie konnte das passieren? Nur weil ich ausgerutscht bin?" James legte beruhigend seine Hand auf meine Schulter und fing an zu erklären: "Durch den Aufprall beim Autounfall wurde dein Sehnerv verletzt, was aber zuerst niemand wusste. Weil du dir gestern" - "Gestern? Wie lange habe ich bitte geschlafen?", unterbrach ich ihn entsetzt. Ruhig fuhr mein Bruder fort: "Weil du dir gestern deinen Kopf gestoßen hast, hat sich diese Verletzung vergrößert, weshalb du dann operiert wurdest. Es konnte aber nur dein linkes Auge gerettet werden, da der Schaden beim rechten zu groß war." "Werde ich starke Einschränkungen haben? Darf ich morgen überhaupt mit zum Ball?", erkundigte ich mich. Das Schulterzucken der beiden Besucher beantwortete meine Fragen.

Nach einer Weile kam ein Arzt herein, um meine Augen zu untersuchen. "So... Folgen Sie mit ihrem Auge meinem Finger.", wies er mich an. "Wenn Sie ihr linkes Auge bewegen, bewegt sich das rechte zum Glück auch mit. Die Augenmuskeln wurden nunmal nicht beschädigt. Es könnte nur sein, dass Sie manchmal aus Versehen schielen, aber das sollte auch nicht so stark sein." "Darf ich heute wieder nach Hause? Und morgen mit meinem Bruder auf den Schulball?", fragte ich nach, sein nachdenklicher Blick verriet nichts. "Also heute kann ich Sie schon entlassen, aber seien Sie morgen vorsichtig. Wenn Sie sich heute jedoch unwohl fühlen sollten, gehen Sie auf keinen Fall, verstanden?", meinte er schließlich und ich nickte eifrig. "Gut. Dann versuchen Sie bitte mal aufzustehen." Langsam näherte ich mich dem Bettrand und stellte meine Füße auf den Boden. Zur Sicherheit hielt ich mich an meinem Vater fest und behutsam stellte ich mich auf. "Perfekt. Sie können gehen.", informierte mich der Arzt gleichgültig.

Wieder zu Hause angekommen probierte ich ein paar verschiedene Aufgaben mit meinen Augen, dann gesellte ich mich zu James und meinen Vater, die sich in James' Zimmer versammelt hatten. "Jeder hat jetzt irgendeinen gesundheitlichen Schaden außer dir.", stellte ich mit meinem Blick auf unseren Vater gerichtet fest. "Das stimmt so nicht wirklich...", fing er daraufhin etwas beschämt an. "Ich hatte innere Blutungen, als ich in's Krankenhaus eingeliefert wurde. Es wurde zum Glück geheilt. Dafür habe ich jetzt für immer diese Narbe.", er zog sein Hemd etwas hoch, damit wir freien Blick auf seinen Bauch und eine Narbe, die gerade durch den Bauchnabel bis zum Brustkorb reichte, hatten. "Warum hast du uns das nie erzählt?", fragte sein Sohn erstaunt nach. "Naja, ich hielt es nicht für nötig.", lautete die Antwort.

Ermüdet von dem stressigen Tag glitt ich in mein Zimmer und ließ mich in das Bett fallen. Sobald ich die Augen schloss tauchte ein Traum in meinem Kopf auf:
Ich betrat mit dem Ballkleid die Sporthalle an unserer Schule, alle drehten sich zu mir um, und fingen an lauthals zu lachen. In der Spiegelung am Fenster sah ich mein Gesicht. Das blinde Auge hing nach unten, während das gesunde Auge beschämt nach oben blickte. Am liebsten wäre ich im Boden versunken.

"Selina! Aufwachen, du hast verschlafen!", riss mich die Stimme meines Vaters aus dem Schlaf. Eilig begab ich mich in's Bad, um die Haare zu bürsten, mich unter den Armen zu waschen und mich schließlich mit Deo einzusprühen. Hastig zog ich das Ballkleid an und stürzte mit James im Schlepptau aus dem Haus. Wir kamen mit dem Bus an der Haltestelle an und der Fahrer half uns netterweise mit dem Rollstuhl.

Die Warteschlange vor der Schule war noch gut gefüllt, wodurch ich noch genug Zeit hatte, um mich mit meinem großen Bruder zu unterhalten. "Hängt mein blindes Auge runter?", fragte ich ihn besorgt. "Was? Nein. Wie kommst du darauf? Der Muskel ist doch heil.", antwortete er verwirrt. "In meinem Traum haben  mich alle deswegen ausgelacht.", gab ich kleinlaut zu. "Selina. Du bist wunderschön und man merkt nicht, dass etwas mit deinem Auge nicht stimmt." Als er das sagte, bildete sich ein Lächeln auf meinen Lippen und erleichtert aber auch glücklich betrat ich die Schule.

"Siehst du das Mädchen da vorne? Mit dem rosanen Kleid?", fragte mich James. Nachdem ich nickte fuhr er fort: "Das ist Elisa aus meiner Klasse. Ich habe dir vorgestern von ihr erzählt." Ich verstand sofort von wem er redete. Sie war sein großer Schwarm. Also meinte ich beiläufig: "Dann gehe ich mich mal umschauen. Wenn irgendwas ist, sag' Bescheid." Mein Bruder lächelte mich an und meinte liebevoll: "Bei dir genauso. Für dich ist das mit dem Auge neu. Für mich der Rollstuhl nicht. Ich weiß mir mittlerweile besser zu helfen. Bis später." Und schon war er verschwunden.

Zuerst blieb ich etwas außerhalb der Menschenmasse, wollte nicht die Nähe der Anderen. Dann erinnerte ich mich an das, was mein Bruder am Freitag gesagt hatte - dass es mir bestimmt guttun würde, wenn ich auch mal wieder etwas mit anderen Leuten zu tun habe. Also mischte ich mich etwas unter das Volk und lief planlos durch die Gegend. Doch auf meinem Weg stolperte ich über etwas, was ich durch meine neue Behinderung nicht sehen konnte. "Entschuldigung! Tut mir leid! Brauchst du Hilfe?", stotterte eine weibliche Stimme. "Geht schon...", murmelte ich, als ich mich aufrappelte. Jetzt stand ich vor einem hübschen Mädchen in meinem Alter, das ich ein paar mal in der Mensa oder im Gang gesehen hatte. "Ich hätte meinen Fuß nicht so in den Weg stellen sollen. Ist wirklich alles gut?", ihre Fürsorge war bemerkenswert. "Doch, doch. Alles ist gut. Wirklich. Ich habe dich nur nicht gesehen. Normalerweise hätte ich das, aber nicht... heute.", versuchte ich sie zu beruhigen, doch das ging nach hinten los. Das Mädchen schaute besorgt und hakte nach: "Was ist denn heute? Warum kannst du heute nicht so gut sehen, oder wie auch immer du das meintest?" "Ich rede ungern darüber. Vor allem nicht, wenn so viele Menschen zuhören könnten. Wenn du willst erzähle ich es dir in der Aula.", erklärte ich knapp.

In der Aula angekommen sah ich erst ihr wunderschönes Kleid und diese perfekte Figur dazu. Warum auch immer wurden mir dabei die Knie weich. "Ich bin übrigens Zara.", stellte sich die Schwarzhaarige vor. "Selina... Ich bin Selina.", stockte ich wie erstarrt.

Ein etwas anderes LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt