10. Kapitel

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Gegen Mittag packte ich in meinen Rucksack mit Schwimmsachen, eine Plastiktüte und zwei selbstaufladbare Taschenlampen. Mit diesem polterte ich die Treppe runter und gab meiner Familie Bescheid, dass ich wieder zu der Grotte gehen würde. "Selina?", rief mich mein Vater zurück. "Willst du James vielleicht mitnehmen?" "Warte, was?!", unterbrach ihn James. "Was soll ich da denn machen?!" Flehend sah er mich an, doch ich packte seinen Rollstuhl und fuhr ihn los. "Mir fällt schon was ein. Tschüss, Papa!" Damit verschwanden wir draußen.

Den ganzen Weg bis zu der Felswand meckerte der 16-jährige. Als ich ihn durch die Wiese schob starrte er mich nur noch fassungslos an. "Was meinst du, wie der Rollstuhl danach aussehen wird?!" "Ach was! Wird schon nicht so tragisch sein. Und jetzt halt' bitte mal die Klappe!" Vor dem See stellte ich den Rollstuhl ab und betätigte sicherheitshalber die Bremsen. Dann zog ich mich schnell um und legte die zwei Taschenlampen  in die Plastiktüte. "Ich bringe jetzt die Lampen in die Grotte. Wenn ich fertig bin, schauen wir mal, was wir mit dir machen können..." Damit sprang ich in das Wasser, die Tüte mit den Taschenlampen fest im Griff. Geschmeidig glitt ich durch den Eingang und durchbrach schließlich die Wasseroberfläche. Blind tastete ich mich zu dem Kies, bei dem ich mich hinsetzen konnte. Vorsichtig öffnete ich die Plastiktüte und stellte erleichtert fest, dass kein Wasser eingedrungen war. Eine der Taschenlampen schielt ich an, und was ich dann sah, war atemberaubend:
Die Decke, die sich rund über mir erstreckte, glitzerte faszinierend. Das Wasser unter mir war klar und wunderschön blau, während die Steine am Grund leicht schimmerten. Jeder einzelne der Kiesel, auf denen ich saß, war rundgeschliffen und keiner würde einen jemals pieksen können. "Selina? Lebst du noch?", hallte James' stimme durch die Wand. Schnell grub ich eine Grube, in die ich die Lampen legte und rief: "Komme schon!" Also tauchte ich wieder raus und blickte dann in sein Gesicht. "Schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt.", begrüßte mich mein großer Bruder. Augenrollend ging ich aus dem Wasser und versuchte ihn aus den Rollstuhl zu heben. "Was soll das werden?!", schrie dieser - jetzt nicht mehr gespielt - entsetzt. "Ich bringe dich in's Wasser.", erklärte ich ruhig. "Damit ich dann etwa ertrinke?!", er krallte sich so gut es ging an die Lehnen, doch ich war stärker und schaffte es, ihn auf den Boden abzusetzen. "Am besten schwimmst du mit der Boxershort. Sonst hast du dann nichts Trockenes mehr." Es war nicht schwer, ihm die Hose und das T-shirt auszuziehen, wodurch ich ihn schon in wenigen Minuten in das Wasser brachte. Wir waren mittlerweile bei der Stelle angekommen, bei der es unmöglich war zu stehen. James hing an meinen Armen, seine Beine hingen schlaff herab. "Du musst jetzt ganz tief Luft holen.", meinte ich ernst. Überraschenderweise hörte er auf mich, also tauchte ich Hand in Hand mit ihm unter Wasser. Rückwärts schwamm ich durch die Öffnung, da es mir lieber war, wenn James geradeaus 'schwamm'. Es dauerte nicht lange, da tauchten wir schon auf. Schnell setzte ich meinen gelähmten Bruder auf dem Kies ab und griff nach einer Taschenlampe, die ich anschielt. Beruhigt konnte ich sehen, dass James sich gut am Boden abstieß, woraufhin ich mich neben ihn setzte. "Und was hat das jetzt gebracht?", fragte er mich verwirrt. Darauf antwortete ich mehr oder weniger: "Du kannst mir jetzt doch nicht erzählen, es hätte sich nicht gut angefühlt! War das für dich nicht so, als würdest du endlich wieder etwas machen können, was dir Spaß macht?" Etwas verständlicher sah er mir in die Augen. "Das ist wohl war... Es hat sich wirklich gut angefühlt, nicht mit dem Hintern am Rollstuhl zu kleben." "Siehst du?", meinte ich "Du musst jetzt nunmahl damit leben. Warum also nicht das Beste daraus machen?" Wie in Gedanken versunken blickte James hinunter, zu den schimmernden Steinen. Mich überkam wieder das Gefühl der Ruhe und Entspannung, und es schien, als würde mein Bruder das Gleiche empfinden. Langsam hob sich sein Blick wieder. "Kannst du mir die zweite Taschenlampe geben?", bat er mich. Ich griff nach ihr und schielt sie für ihn an. "Lehn' dich am Besten an die Wand, um es auszugleichen, wenn du dich mit der einen Hand nicht mehr abstützt.", schlug ich vor. Er befolgte meinen Rat und nahm die Lampe entgegen. "Das ist wirklich eine schöne Grotte. Irgendwie so geheimnisvoll.", bemerkte James.
James liebte schon als kleines Kind geheimnisvolle Orte, Dinge und Geschichten. Diese Vorliebe wird ihm wahrscheinlich auch für immer bleiben.

"Wollen wir langsam wieder zurücktauchen?", fragte ich später in die angenehme Stille. "Nagut", lautete die Antwort. Daraufhin hob ich meinen Bruder zurück in's Wasser, und wir tauchten wieder einmal Hand in Hand durch den Ein- und Ausgang. An der Wasseroberfläche angekommen, brachte ich James zum Rand und setzte ihn dort zuerst ab. Nach einer kurzen Verschnaufpause half ich ihm, die Anziehsachen zu wechseln und anschließend sich in den Rollstuhl zu setzen. "Danke Selina.", nuschelte er beinahe unverständlich vor sich hin. "Wofür denn?", informierte ich mich überrascht. "Einfach für alles, was du für mich getan hast. Und es tut mir leid, dass ich dich immer wieder angemotzt habe, obwohl du nur das Beste für mich wolltest." Noch immer überrascht blickte ich ihn an, aber er mied meinen Blick vor Scham. "Gerne doch.", flüsterte ich mit einem riesigem Lächeln auf meinen Lippen und fing an, mich umzuziehen. Die nassen Klamotten legte ich in den Rucksack und schließlich machten wir uns auf den Weg nach Hause. Währenddessen redeten wir über irgendwelche unnötigen Informationen, wie zum Beispiel, dass Erdbeereis besser schmeckte als Vanilleeis.

Als wir endlich zu Hause angekommen waren, begrüßte uns schon freudig unser Vater: "Hallo ihr Zwei! Ihr seht ja glücklich aus! Hattet ihr Spaß?" Daraufhin antworteten James und ich gleichzeitig ironisch: "Ne, weißt du?", und schauten uns dann lachend an. Ausnahmsweise war der Tag sehr schön, bis mein Handy klingelte. Es war eine unbekannte Nummer, aber als ich abnahm, hörte ich Lisas Stimme: "Hallo, Alicia. Wie geht's dir so? Wollte dich fragen, ob du schon mit Selina geredet hast." "Hallo Lisa. Ich bin übrigens Selina. Alicia hat mir ihr altes Handy gegeben. Worüber soll sie denn mit mit reden?", nachdem ich fertig gesprochen hatte, war es zuerst still, dann ertönte das Piepgeräusch, das bedeutet, dass die Person aufgelegt hat.

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