6. Kapitel

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"Soll ich jetzt lieber gehen?", fragte Alicia "Ich meine... wegen deinem Vater?" Kurz musste ich überlegen, dann nickte ich zustimmend und begleitete sie zur Haustür. "Bis zum nächsten Mal!", rief ich ihr hinterher und schloss die Türe. Da klingelte das Telefon. Schnell sauste ich zu dem Klingeln und legte den Hörer an mein Ohr. "Hallo?" "Guten Tag. Ich bin vom Krankenhaus. Mit wem spreche ich?" "Mit Selina. Selina Millhauser. Ich war bis vor kurzem auch bei euch im Krankenhaus. Ist irgendetwas mit meinem Bruder?", am anderen Ende der Leitung war es kurz still, bis die Dame antwortete: "Ihr Bruder kann heute entlassen werden. Er würde gerne von Ihnen und ihrem Vater abgeholt werden." "Das ist ja großartig! Ich gebe ihm sofort Bescheid! Vielen Dank!" Ich verabschiedete mich nicht einmal und legte schon sofort auf. Die Treppe polterte, als ich auf das Zimmer meines Vaters zustürmte. "Papa?", ich klopfte an "Ich habe Neuigkeiten. Darf ich rein kommen?" "Natürlich, Schatz.", lautete seine Einverständnis. Ich drückte gleich danach die Klinke nach unten und erzählte ihm vom Anruf. "Das ist ja super!", polterte seine Stimme, mit dem Drang, glücklich zu klingen.
Er machte sich fertig und kam schließlich zu mir nach unten, mit den Autoschlüsseln seines unbeschädigten Autos. Draußen sperrte er es auf und setzte sich, genau wie ich es tat, behutsam in den Sitz. Erinnerungen benebelten meine Gedanken. Quietschende Reifen. Eine kreischende Stimme. Der Schmerz, der über mich gekommen war. Die Nachricht, was mit meiner Mutter geschehen war. Die Lähmung der Beine meines Bruders. Und noch dazu die Trauer meines Vaters. "Süße", holte mich mein Vater aus den Gedanken "Alles wird gut. Ich werde vorsichtig sein." Meine Augen schauten dankbar in die seine. "Ich hab dich lieb.", murmelte ich. "Ich dich doch auch. Du und James seid die wichtigsten Personen, die mir noch geblieben sind." Tapfer unterdrückte er die Trauer, die ihn jetzt bestimmt quälte, darum erlöste ich ihn: "Dann mal los." Er gehorchte und steuerte das Auto aus der Einfahrt. Mir schwirrte nur eine bestimmte Frage im Kopf:
Wie können wir James mit dem Rollstuhl in unser stinknormales Auto verfrachten?
Als wir beim Ziel ankamen, konnte ich James schon auf dem Parkplatz sehen. Er saß in einem elektronischem Rollstuhl, den er einfach bedienen konnte, indem er die Steuerung in die Richtung bewegte, in die er fahren wollte. Ich stieg aus dem Auto und bekam eine 'herzliche' Begrüßung: "Hey, Selina. Vrgiss' ja nicht, dass du mich pflegen musst. Da vergeht dir das Grinsen bestimmt wieder." "Jaja. Du willst mich nur nicht mehr glücklich sehen.", ich verzog eine beleidigte Miene und verschränkte die Arme in Kombination mit einem in die Höhe gerecktem Kinn. James blickte zweifelnd in Richtung Auto. "Wo sollen wir da den Rollstuhl hinbekommen?" Ihm antwortete eine Krankenschwester, die ihn begleitet hatte: "Der kann zusammengeklappt werden. Du kannst dich mit Selina als Aufsicht hinten hinsetzen und der Rollstuhl kommt in den Kofferraum." Das setzten wir auch in die Tat um:
Mein Vater hob James auf den Rücksitz, dann wurde erklärt, wie der Rollstuhl ein- und ausgeklappt werden kann und letzten Endes fuhren wir zurück nach Hause. Während der Fahrt schaute James die ganze Zeit aus dem Fenster. Er sah irgendwie traurig aus - schließlich hatte er ja auch seine Freiheit verloren. Der Arme wird nie wieder laufen können. Zu Hause angekommen half ich meinem Vater mit dem Rollstuhl und wartete, bis er James hineingesetzt hatte. Ich schob meinen Bruder zur Haustür, die unser Vater öffnete. Durch diese half ich James hindurch und ging schonmal vor zu einem Zimmer im Erdgeschoss, das wir für ihn ausgesucht hatten. Es musste nur noch hergerichtet werden, dann gehörte es ihm. Als ich das Zimmer betrat rollte mein großer Bruder zu mir. "Da muss noch vieles raus.", stellte er fest. Davor hatte der Raum als Besenkammer gedient, war aber trotzdem ein sehr großes Zimmer, wodurch es perfekt für ihn war. "Wir werden hier alles rausbringen und deine Sachen runtertragen. Das sollte ganz gut funktionieren.", meinte ich zu ihm. James schaute düster in den Raum, was mich verunsicherte. "Ist irgendwas?" "Nein! Alles in bester Ordnung!", blaffte er aufgebracht "Ich kann nur nie wieder laufen, oder Sport machen! Nicht einmal meine Hände kann ich gescheit benutzen! Aber nein! Alles super!" Verdutzt sah ich den aufgewühlten Jungen an, der mich anstarrte, als wäre ich ein Feind. Unser Vater hatte das Geschrei gehört und kam jetzt auch in's Zimmer. "James!", schimpfte er "Deine Schwester kann auch nichts dafür!" James schnaufte nur und drehte seinen Rollstuhl weg. Das war das Zeichen dafür, dass wir lieber gehen sollten, also taten mein Vater und ich das auch. Ich machte mich besorgt auf den Weg zu meinem Raum nach oben und dachte währenddessen über das Geschehene nach. In meinem Zimmer angekommen ließ ich mich in mein Bett fallen und starrte an die Decke. Später kam mir die Idee, ein bisschen raus zu gehen und vielleicht gleich noch Alicia zu besuchen. Als ich schließlich am Gehweg entlanglief, fiel mir eine Straße auf, bei der ich noch nie zuvor entlanggelaufen war. In diese bog ich ein und erkundete die Ortschaft. Dort war es genauso dörflich wie bei meiner Straße, doch die Häuser wurden immer weniger, bis sie in viele Felder mündeten. Ich lief neben zwei Maisfeldern weiter zu Feldwegen, die sich links und rechts entlangzogen. Meine Füße wählten den Linken. Die Wolken waren aufgerissen und ließen die Sonnenstrahlen herabstrahlen, auf die Felder und mich. Es tat gut allein zu sein, mitten im Nirgendwo und abgekapselt von der Wirklichkeit. Ohne den ständigen Druck, dass meine Mutter nicht mehr bei uns war, und ich die Dinge selbst in die Hand nehmen musste. Mein Körper war weg von all den Menschen, die 'es tut mir leid für euch' sagten, obwohl sie nichts getan haben, was meine Mutter sterben lassen hatte. Sie waren unschuldig wie alle anderen. Nur der Autofahrer des Mörders war schuldig, wobei ich mich fragte, was mit ihm passiert war. Der Typ wurde schließlich auch heftig erwischt, wenn er direkt in unser Auto gerast war... Mittlerweile weiß ich, was mit ihm passiert war:
Als er in unser Auto gefahren ist, zersplitterte seine Windschutzscheibe, wodurch er viele Fleischwunden bekam. Doch durch den Aufprall war er, bevor der Airbag heraussprang, mit dem Kopf auf das Lenkrad gedonnert und war dadurch schwer verletzt in das selbe Krankenhaus wie wir eingeliefert worden. Sein Auto ist schon sehr alt gewesen, deshalb sind diese Dinge passiert.
Ich schlenderte noch etwas bei den Feldern entlang, aber machte mich dann wieder auf den Weg nach Hause, als es anfing zu dämmern.

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