17. Kapitel

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Das Klingeln meines Weckers riss mich aus dem Schlaf. Mein Auge reibend stellte ich ihn ab und verschlafen verließ ich das Bett. Heute musste ich wieder in die Schule, wodurch alle mein neues Gesicht sehen würden. Davor hatte ich tierische Angst.

Nach dem Umziehen setzte ich mich zu James an den Tisch und aß ein Müsli. Wir unterhielten uns ein wenig, dann sprach ich meine Sorge an: "Was werden wohl die Leute in der Schule von mir halten, wenn sie mich jetzt wiedersehen? Die werden mich bestimmt alle anstarren.", während ich das aussprach, lief eine kleine Träne an meiner Wange herunter. "Ach was! Sie werden dich ganz sicher anschauen, aber was soll's? Du musst ja nicht darauf achten. Ignoriere es einfach." Nicht ganz überzeugt nickte ich leicht. "Ich glaube, ich bekomme bald wieder meine Tage, so sensibel wie ich jetzt auf einmal bin.", lockerte ich die Stimmung auf während ich mit der Hand über mein Gesicht wischte. Da kam unser Vater die Treppe herunter. "Guten Morgen meine Lieben!", begrüßte er uns freudig. "Morgen", antworteten wir wie aus einem Munde.

In der Schule angekommen begleitete James mich bis zu meinem Klassenzimmer, da er in die gleiche Richtung musste. Auf dem Weg hatte ich viele Blicke und Getuschel bemerkt, jedoch strengte ich mich an, dies zu ignorieren. Ich betrat die Klasse, da kam mir Zara schon entgegen. "Guten Morgen", begrüßten wir uns. Unsicher sah ich sie an, mögliche Blicke meiner Klassenmitglieder schon lange vergessen, und stellte leise eine Frage: "Würdest du mich auch in der Öffentlichkeit küssen und Händchenhalten oder willst du das nicht?" So ruhig wie immer sah sie in mein Auge und legte als Antwort ihre Lippen auf meine. Überrascht und überglücklich erwiderte ich den Kuss und ging dann mit ihr zu unseren Plätzen. Schon bald betrat unsere Lehrerin das Zimmer. "Selina, schön, dass du wieder da bist. Wie geht es dir? Konntest du dich erholen?", begrüßte sie mich mit guter Laune. "Mir geht's gut, danke. Ich konnte mich auch gut erholen, weil ich die meiste Zeit im Bett bleiben musste.", antwortete ich lächelnd. Dann begann der Unterricht und ich war erleichtert, dass sie mich nicht auf mein fehlendes Auge angesprochen hatte.

Die große Pause begann, also verließen Zara und ich Hand in Hand den Raum und gingen nach draußen zu unserem gewöhnlichen Platz. Wir aßen und tranken unsere mitgenommenen Dinge, währenddessen unterhielten wir uns. "Kannst du dir nicht eigentlich ein Glasauge reinmachen lassen?", fragte meine Partnerin nach einer Weile. "Ja, das könnte ich schon, nur habe ich Angst, dass sich dann irgendetwas entzündet. Der Gedanke, dass ich ein falsches Auge in meiner Augenhöhle habe, gefällt mir aber auch nicht wirklich.", erklärte ich.

Die Schule war endlich vorbei und ich wartete mit James und Zara auf unsere Busse. Ihr macht es also richtig öffentlich?", fragte mein großer Bruder mit einem Blick auf unsere verschränkten Finger und grinste über beide Ohren. Ebenfalls grinsend nickten wir. "Selina hat mich das heute Früh ganz süß verunsichert gefragt. Da konnte ich natürlich nicht anders, als ihr einen Kuss zu geben.", meinte Zara. "Auf den Mund?", fragte er daraufhin aufgeregt, wie ein Kleinkind. "Natürlich auf den Mund! Noch dazu vor der Klasse.", antwortete ich lachend. Der Bus meiner festen Freundin kam an, also verabschiedeten wir uns mit einem kurzen Kuss. Jetzt warteten nur noch James und ich, wobei unser Bus auch schon eintraf. Ich zeigte dem Busfahrer, dass wir Hilfe benötigten. Dieser gab mit einem genervtem Stöhnen zu verstehen, dass er keine Lust hatte, stand daraufhin jedoch widerwillig auf.

Beim Aussteigen verzichteten wir auf die Rollstuhlrampe, weshalb James sehr unsanft auf den Boden aufkam. "Der Busfahrer muss ja einen unglaublich schlechten Tag haben.", bemerkte ich auf dem Weg nach Hause. "Ja. Sonst war er immer total verständnisvoll. Bestimmt hat seine Frau ihn verlassen, falls er eine hat.", überlegte mein Bruder. Nickend stimmte ich dem zu.

Zu Hause angekommen machten wir uns eine Suppe mit Brot. Unser Vater war in der Arbeit und draußen wurde es kälter. Während wir uns mit dem Essen aufwärmten schwiegen wir, da niemand wusste, was wir uns erzählen könnten.

Später kam die Post und überreichte mir ein kleines Päckchen. Aufgeregt hopste ich in James' Zimmer, "Mein neues Handy ist da", teilte ich ihm mit. "Hilfst du mir es einzurichten?", fragte ich bittend. "Na klar. Bring' mir mal dein altes Handy.", forderte er mich auf. Also ging ich nach oben, holte das schlecht reagierende Smartphone und brachte es meinem Bruder. Dieser baute es auseinander, nahm die SIM- und SD Karte und steckte sie dann in mein neues Handy. Dann machte er es an, drückte Knöpfe und gab verschiedenes ein, bis er "Fertig, bitteschön." sagte und es mir in die Hand drückte. "Danke!", bedankte ich mich und eilte in mein Zimmer. Dort angekommen schrieb ich meine Freundin an und fragte sie, ob ich sie in nächster Zeit besuchen könnte, da ich ja noch nie bei ihr war. Schon bald kam ihre Antwort: "Jetzt habe ich Zeit, Morgen, Übermorgen,... eigentlich immer." "Wo wohnst du denn?", fragte ich fröhlich. Sie schickte mir ihre Adresse und ich schrieb schnell meinen Vater an, wann er wieder da war, damit er mich fuhr.

Eine halbe Stunde später kam mein Vater an und fuhr mich daraufhin sofort zu meiner Partnerin. Als wir dort waren hörte man lautes Poltern und dann öffnete mir Zara keuchend die Tür. "Hallo Selina!", begrüßte sie mich außer Atem. "Hi", meinte ich perplex. Sie zog mich gleich mit sich, führte mich eine Treppe hinauf zu ihrem Zimmer, dort setzten wir uns auf eine Couch, die Rechts neben der Tür war. Daneben befand sich ein Fenster, auf dessen Fensterbrett Pflanzen standen. Ihr Bett stand neben einer Balkontür gegenüber der Zimmertür und ein Kleiderschrank stand neben der Balkontür auf der linken Seite. Mein Blick wanderte zu ihr zurück und sie sah mich liebevoll an. Ich beugte mich zu ihr und gab ihr einen Kuss. Dann küssten wir uns wieder, aber länger. Ein Klopfen an der Tür unterbrach uns und Zaras Schwester betrat das Zimmer. "Hallo, Selina. Ich habe schon viel von dir gehört. Kekse gefällig?", erkundigte sie sich mit einem Teller voller Keksen in der verbundenen Hand. Ihre Haut war überall gerötet, die Hände und Unterarme waren mit Verbänden eingewickelt. "Gerne, danke.", meinte ich und nahm mir einen Keks vom Teller.

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